Der Totenleser
acht Jahren ausfindig machen, deren Aussagen nach Corinna Joosten eine stille Frau gewesen war, die sehr zurückgezogen gelebt und häufig niedergeschlagen gewirkt habe, ohne über die Gründe zu sprechen. Keiner von ihnen wollte etwas von einer Schwangerschaft während ihrer Beziehung oder von früheren Schwangerschaften gewusst haben, aber alle drei Männer gaben freiwillig eine Speichelprobe zur Klärung einer möglichen Vaterschaft ab. Die DNA-Analysen ergaben, dass tatsächlich zwei der Männer Vater jeweils eines der toten Kinder waren.
Unweigerlich drängte sich mir die Frage auf, wie diese Männer sich gefühlt haben müssen, als sie durch die Polizei von dem Leichenfund und ihrer Vaterschaft er fuhren. Diese Männer müssen sich doch im Nachhinein gefragt haben, wieso Corinna Joosten ihnen damals ihre Schwangerschaft verheimlichte, wieso sie selbst überhaupt nichts davon bemerkten und wie es überhaupt so weit kommen konnte.
Der Anblick der vier Stahlwannen mit den sterblichen Überresten von vier Neugeborenen war für mich ein trauriger Höhepunkt in meiner beruflichen Laufbahn als Rechtsmediziner. Und er erinnerte mich an einen anderen Fall aus jüngerer Zeit, an dem ich zu meiner damaligen Erleichterung nicht beteiligt gewesen war:
Im August 2005 wurden auf dem Grundstück eines Einfamilienhauses im brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd in Blumenkübeln, Eimern und anderen Behältnissen die sterblichen Überreste von insgesamt neun Neugeborenen gefunden. Die Kindesmutter hatte die Babys zwischen 1988 und 1999 zur Welt gebracht, sie nach der Geburt einfach nicht versorgt, bis sie gestorben waren, und sie dann verscharrt. Niemand aus ihrem näheren Umfeld, nicht einmal ihr Ehemann und Vater der Kinder, wollte etwas von den Schwangerschaften bemerkt haben.
Auch wenn dieser Fall in der deutschen Kriminalgeschichte einmalig ist, so ist er doch in einem zentralen Punkt keine Ausnahme: dem Auffinden gleich mehrerer toter Kinder. So fand man zum Beispiel im Januar 2007 in einem kleinen Ort in der Nähe von Erfurt bei Abriss arbeiten die sterblichen Überreste dreier Neugeborener in der Zwischendecke einer Garage. Im April 2007 öffnete ein 15-Jähriger, der bei seiner Mutter in Erfurt zu Besuch war, die Kühltruhe und entdeckte darin zwei Babyleichen. Im Dezember 2007 wurden drei tote Säuglinge im sächsischen Plauen geborgen – eines in einem Koffer im Keller von Verwandten der Mutter, die anderen beiden in einer Kühltruhe. Und im Mai 2008 entdeckte ein 18-Jähriger im nordrhein-westfälischen Wenden drei Babyleichen im Haus seiner Eltern, wieder in einer Tiefkühltruhe. Und auch in diesem Fall wollte der Ehemann nichts von den drei aufeinanderfolgenden Schwangerschaften seiner Frau bemerkt haben.
Wohl wegen der Fälle in Brandenburg, Thüringen und Sachsen deutete der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, vor der Presse indirekt an, Mütter, die ihre Neugeborenen töten oder sterben lassen, seien vor allem ein ostdeutsches Phänomen. Zu erklären sei dies »vor allem mit einer leichtfertigen Einstellung zum werdenden Leben in den neuen Bundesländern«. Solche unreflektierten, populistischen Aussagen entbehren jedoch jeglicher statistischer Grundlage. Schon die Behauptung, in den neuen Bundesländern würden deutlich mehr Babyleichen gefunden, ist ungefähr so seriös, als würde man jemanden zum Mörder erklären, nur weil es sich kriminalistisch nicht ausschließen lässt, dass er irgendwann einmal an einem Tatort war. Fakt ist nämlich: Es gibt überhaupt keine statistisch abgesicherten Erkenntnisse, dass der Anteil der Kindstötungen im Osten Deutschlands höher ist als im Westen. Das hat mehrere Ursachen. Tötungen Neugeborener durch ihre eigene Mutter werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht gesondert ausgewiesen. Zum Teil werden diese Fälle nach ihrer juristischen Bewertung in den entsprechenden Kategorien unter Mord und Totschlag zusammengefasst, können aber dort nicht als entsprechender Fall identifiziert werden. Auch die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes ist bei der Suche nach Tötungen Neugeborener nicht hilfreich. Zwar sind dort alle kindlichen Todesfälle innerhalb des ersten Lebensjahres erfasst, doch werden nur sehr allgemeine Diagnosen wie »Ersticken unter der Geburt« oder »Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen« angegeben. Dahinter können sich auch natürliche Todesfälle verbergen. Ein weiteres Problem: Die
Weitere Kostenlose Bücher