Der Totenleser
an, die Tackerklammern zu lösen. Als sie genügend entfernt hatte, um den Leinenüberzug zur Hälfte umzuklappen, wurde der Gestank fast unerträglich. Es kostete sie große Überwindung, in den Hohlraum unter dem Bezug zu greifen. Zunächst holte sie ein Knäuel Holzwolle heraus. Dann tastete sie sich im Inneren des Hockers weiter vor und erfühlte eine stramm verschnürte Plastiktüte. Sie traute sich nicht, sie herauszuholen, sondern drückte ein paar Mal darauf herum. Dann zog sie erschrocken ihre Hand zurück. Sie verließ die Wohnung, um Jacke und Wagenschlüssel von nebenan zu holen, und machte sich umgehend auf zur nächsten Polizeiwache.
Polizeihauptmeister Wolfgang Kannenberg war nicht der Einzige, der mit seiner Arbeit innehielt, als die Tür zur Wache aufging. Im Laufe eines Arbeitstages geht die Tür einer Polizeiwache oft auf und zu, das allein war kein Grund, sich verdutzt umzudrehen. Nur sah der Polizist aus dem Augenwinkel, dass ein sperriges Möbelstück zur Tür hereinbugsiert wurde: würfelförmig, gemustert und bestimmt sechzig Zentimeter hoch, breit und lang – offenbar der Hocker einer Polstergarnitur. Dass es sich hier nicht um die Anlieferung von Büroausstattung handelte, verriet ihm schon der Blick auf die zierliche Frau, die sich mit dem Hocker abmühte und sich hilfesuchend umsah. Schnell war ein Freund und Helfer gefunden, und als der Uniformierte den Polsterhocker, der aus der Nähe ziemlich ramponiert aussah, an einem geeigneten Platz abgesetzt hatte, widmete sich der Polizeihauptmeister der Dame, die ganz offensichtlich in heller Aufregung war.
Kannenberg musste innerlich schmunzeln. Solche kleinen Kuriositäten gab es zwar nicht jeden Tag zu bestaunen, aber in seinen vierunddreißig Jahren als Polizeibeamter hatten die Leute noch ganz andere, größere, schwerere und auch viel merkwürdigere Dinge bei der Polizei angeschleppt. Jetzt hielt er es für das Beste, die Frau erst einmal mit in sein Dienstzimmer zu nehmen, wo es weniger hektisch zuging, damit sie sich dort etwas beruhigte. Doch bevor er sie auch nur begrüßen konnte, sagte die Frau mit leichtem Akzent: »Ich glaub, da sind Knochen drin.«
Knochenfunde sind an sich nichts Ungewöhnliches. Nahezu täglich bekommen wir in der Rechtsmedizin »Skelettfunde« und »Leichenteile« angeliefert, die eifrige Spaziergänger entdeckt und zur Polizei gebracht haben. Bisweilen entpuppen sich diese dann als Rinder- oder Hirschknochen, tierische Innereien, die nach illegalen Schlachtungen einfach in einer Grünanlage ebenso ge setzwidrig entsorgt wurden, oder Reste von Schlacke, die auf den ersten Blick wie verbrannte Knochenstücke aussehen.
Auch wenn in einer Metropole wie Berlin nahezu täglich authentische Skelettfunde, meist im Rahmen von Tiefbauarbeiten, gemacht werden, sind nur wenige davon der Beginn eines echten Kriminalfalles. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei um menschliche Überreste aus längst vergangenen Zeiten, vor allem von deutschen oder russischen Soldaten – allein in den letzten zwei Wochen des Zweiten Weltkriegs gab es bei der Schlacht um Berlin 170 000 Gefallene. So seltsam sich das anhört: Berlins Erdboden ist voll von Skeletten und Knochen aus dieser Zeit.
Verpackt in großen Plastiksäcken werden einige Hundert Skelettfunde jährlich in unser Institut gebracht. Bei jedem einzelnen Fund muss dann zunächst von uns geklärt werden, ob es sich dabei um menschliche Knochen handelt. Falls ja, versuchen wir die »Liegezeit« einzuschätzen: Lagen sie schon viele Jahrzehnte im Erdreich, oder sind sie erst kürzlich dort vergraben worden? Denn es ist ja nicht auszuschließen, dass ein entdecktes Skelett zu einem noch aktuellen Vermisstenfall gehört. Verlässliche Angaben darüber zu machen, wie lange Knochen bereits unter der Erde lagen, ist allerdings nicht immer ganz einfach. Das liegt vor allem daran, dass der »Verwitterungszustand« von Knochen auch ganz erheblich von der Beschaffenheit, vor allem der Feuchtigkeit des Erdreichs beeinflusst wird, in dem sie gelegen haben. Und diese Beschaffenheit wiederum ist witterungsbedingt und nicht beständig.
Aber manchmal kommen einem bestimmte Umstände entgegen, so wie vor kurzem, als bei Straßenbauarbeiten in Berlin-Mitte in sechzig Zentimetern Tiefe das vollständige Skelett einer jüngeren Frau entdeckt wurde. Da das Skelett oberhalb von Wasserrohrleitungen lag, die erst 1973 dort gelegt worden waren, konnte die junge Frau also nicht vor 1973
Weitere Kostenlose Bücher