Der Totenleser
Tasche, zog den Reißverschluss auf und entdeckte – eine Babyleiche.
Bei der anschließenden Obduktion stellte ich anhand der Leichenflecken und der Rektaltemperatur fest, dass das Kind zum Zeitpunkt seiner Entdeckung erst wenige Stunden tot gewesen sein konnte. Nicht zuletzt die frühzeitige Entdeckung des Kindes sorgte dafür, dass wir in diesem Fall – ganz anders als wenige Jahre später nach dem vierfachen Leichenfund im Polsterhocker von Corinna Joosten – die Geschichte hinter der Tat erfuhren, in all ihren deprimierenden Details.
Der Körper des toten Mädchens war mit einem dünnen Film aus angetrocknetem Blut und Fruchtschmiere bedeckt, am Nabel hing ein längeres Stück Nabelschnur – beides eindeutige Hinweise, dass es sich um ein Neugeborenes handelte.
In Fällen wie diesem, in denen der Eintritt des Todes noch nicht lange zurückliegt und noch keine Leichenfäulnisveränderungen eingetreten sind, soll die Obduktion vor allem zweifelsfrei klären, ob das neugeborene Kind »nach oder während der Geburt gelebt hat und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen ist, das Leben außerhalb des Mutterleibes fortzusetzen«, wie es in § 90 der Strafprozessordnung heißt. Der Grund liegt auf der Hand: Für das weitere Todesermittlungsverfahren ist es von ganz erheblicher Bedeutung, ob ein Kind gesund oder zumindest lebensfähig auf die Welt kam und dann getötet wurde oder ob es bereits im Mutterleib oder bei der Geburt tot war.
Wie wir in diesem Kapitel bereits erfahren haben, kommt es noch immer vor, dass eine werdende Mutter die Schwangerschaft vor Verwandten, Freunden und sogar (oder erst recht) vor dem Kindesvater verheimlicht und wegen der Geheimhaltung auch keinerlei ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, weder bei der Überwachung der Schwangerschaft noch bei der Geburt. Entsprechend erhöht ist das Risiko, dass das Kind nicht lebend zur Welt kommt, sei es durch Komplikationen noch im Mutterleib oder bei der Geburt ohne professionelle Hilfe. Tritt ein solcher Fall ein, steht die Mutter vor der Wahl, entweder ihr – inzwischen grausiges – Geheimnis zu lüften oder die Leiche verschwinden zu lassen. In einem solchen Fall sieht der Gesetzgeber natürlich ein anderes Strafmaß vor als bei einem Tötungsdelikt.
Um zu klären, ob das Kind unmittelbar nach der Geburt noch gelebt hat, führen wir zunächst die »Lungenschwimmprobe« durch. Dazu werden die beiden Lungenflügel mittels einer speziellen Technik so aus den Brusthöhlen entfernt, dass beim Entnehmen keine Luft in die Luftröhre und Bronchien gelangt, was das Testergebnis verfälschen würde. Anschließend werden die Lungenflügel in eine Wanne mit Wasser gelegt. Hat das Kind außerhalb des Mutterleibes geatmet, sind die Lungenbläschen mit Luft gefüllt und damit entfaltet – die Lungen schwimmen auf der Wasseroberfläche. Gehen die Lungen im Wasser unter, sind die Lungen nicht belüftet, was zwangsläufig bedeutet, dass das Kind nicht geatmet hat und damit nach der Geburt nicht gelebt haben kann. Im Fall des Babys von Janina Leistner fiel die Lungenschwimmprobe positiv aus, das heißt: Es hatte nach der Geburt noch gelebt. Aber wir konnten noch mehr feststellen, und zwar mit Hilfe der »Magen-Darm-Schwimmprobe«. Zahlreiche Luftblasen im Magen und gesamten Dünndarm belegten, dass das Kind mindestens noch sechs Stunden nach der Geburt am Leben gewesen sein musste, da es so lange dauert, bis die Luft, die jedes Neugeborene direkt nach der Geburt verschluckt, den gesamten Dünndarm ausfüllt. Das Mädchen war 52 Zentimeter lang, wog 3360 Gramm, und der Kopf hatte einen Umfang von 35 Zentimetern. Zudem überragten die Fingernägel bereits die Fingerkuppen, und die feine Körperbehaarung, die bis kurz vor Ende der Schwangerschaft noch den gesamten Fötus bedeckt, war nur noch sehr gering im Bereich beider Schultern vorhanden. All das waren hinreichende »Reifezeichen«. In Verbindung mit der Tatsache, dass wir weder bei der Obduktion noch bei den späteren mikroskopischen und laborchemischen Untersuchungen irgendwelche gravierenden oder todesursächlichen Missbildungen oder Erkrankungen des Neugeborenen entdeckten, konnten wir zweifelsfrei feststellen, dass Janina Leistners Kind zum Zeitpunkt der Geburt lebensfähig gewesen war. Ein »intrauteriner Fruchttod«, also der Tod des Kindes im Mutterleib mit anschließender Fehlgeburt, konnte also ausgeschlossen werden.
Bei der späteren Gerichtsverhandlung trat ich als Gutachter auf. Bei dieser
Weitere Kostenlose Bücher