Der Totenleser
Verhandlung berichtete Janina Leistner unverblümt von ihrer Tat: Die ganze Zeit über hatte sie ihre Schwangerschaft vor ihren Eltern und ihrem damaligen Freund, dem Vater des Kindes, geheim halten können. Schließlich brachte sie das Kind ohne fremde Hilfe alleine in ihrem Zimmer in der Dreizimmer wohnung ihrer Eltern zur Welt – während die Eltern in einem anderen Zimmer waren. Nachdem sie die Nabelschnur mit einer Nagelschere durchtrennt hatte, wickelte sie das schreiende Kind in ein Handtuch und legte es in die Reisetasche, in der ihre Mutter dann die schreckliche Entdeckung machte.
Nach den eindeutigen Obduktionsresultaten und dem ausführlichen Geständnis der Angeklagten ging es im weiteren Verlauf der Verhandlung nur noch um das Strafmaß. Dabei wurde wie fast immer in solchen Fällen auch die Vorgeschichte aufgerollt. Auch wenn ich mittlerweile mit vielen Kindstötungen zu tun hatte, werde ich die unglaubliche Geschichte, die sich mir erst jetzt im Verlaufe dieser Gerichtsverhandlung eröffnete, niemals vergessen.
Janina Leistner war die älteste von drei Töchtern. Schon früh hatte sie darunter zu leiden, dass sie – anders als ihre beiden Schwestern – keinerlei elterliche Zuwendung und Zärtlichkeit erfuhr. Die Minderwertigkeitsgefühle, die sie durch diese Zurücksetzung entwickelte, wurden in der Pubertät noch verstärkt, weil sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater vor ihr und anderen verkündeten, dass sie »ein schlechter Mensch« und »nichts wert« sei. Im Umgang mit Problemen gewöhnte sie sich recht bald an, diesen aus dem Weg zu gehen und sie gar nicht erst wahrzunehmen. Echte Freundinnen oder Freunde hatte sie während ihrer Kindheit nicht, auch ihre sozialen Kontakte zu Mitschülern beschränkten sich auf dasNötigste. Im Alter von 15 Jahren wurde Janina das erste Mal schwanger, was sie allerdings erst im fünften Monat ihrer Schwangerschaft bemerkte. Ihre Reaktion erklärte vor Gericht der psychiatrische Sachverständige: Aufgrund ihrer für sich selbst entwickelten Strategie, Pro bleme als einfach nicht existent abzutun, verdrängte sie die Schwangerschaft komplett. Dadurch kam sie auch nicht in Gefahr, sich beispielsweise zu »verplappern«, was die Geheimhaltung – neben dem kaum zunehmenden Bauchumfang – zusätzlich erleichterte. Mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes hatte sie zu dieser Zeit bereits keinen Kontakt mehr. Erst am Tage der Geburt, als die Wehen einsetzten, konnte sie ihren Zustand nicht mehr verheimlichen. Ihre Eltern brachten sie in ein Krankenhaus, wo sie einen gesunden Jungen gebar. Das Kind sah sie nach der Geburt nur ein einziges Mal. Das Angebot einer Säuglingsschwester, das Kind zu wickeln oder zu füttern, lehnte sie ab. Das Kind wurde in eine Pflegefamilie gebracht und später zur Adoption freigegeben. Mit siebzehn Jahren begann Janina Leistner eine Ausbildung. Die brach sie jedoch schon nach kurzer Zeit ab, wovon die Eltern in den darauffolgenden zwei Jahren wieder nichts mitbekamen. Mit achtzehn wurde sie erneut schwanger. Auch diese Schwangerschaft blieb unbemerkt. Weder ihren Eltern, bei denen sie immer noch lebte, noch ihrem damaligen Freund fiel irgendetwas auf. Ihr zweites Kind brachte sie, wie auch später ihr drittes Kind, das ich dann drei Jahre später obduzieren sollte, alleine und ohne fremde Hilfe in ihrem Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern zur Welt. Nach der Geburt drück te sie dem schreienden Mädchen ein Kissen aufs Gesicht, bis es »Ruhe gab«, und versteckte es dann eingehüllt in eine Plastiktüte in derselben Reisetasche, in der ihre Mutter später das dritte Kind fand. Die Tasche verstaute sie in einem Kleiderschrank. Aber auch dieses Kind wurde von ihrer Mutter gefunden. Nach dem Ergebnis der damaligen rechtsmedizinischen Untersuchung und der Beweiswürdigung in der damaligen Gerichtsverhandlung war das Neugeborene in der Plastiktüte erstickt. Juristische Konsequenzen hatte die Tötung für Janina Leistner damals nicht, da der psychiatrische Sachverständige ihr Schuldunfähigkeit attestiert hatte. Seiner – für das Gericht überzeugenden – Ansicht nach sei diese Tat einzig und allein ihrer durch Kälte und Lieblosigkeit gekennzeichneten familiären Situation zuzuschreiben, sie selbst treffe an ihrem Handeln keine Schuld.
Mit zwanzig wurde sie ein drittes Mal schwanger, und wieder gelang es ihr, so der psychiatrische Gutachter, die Schwangerschaft erfolgreich zu verdrängen. Abermals schaffte sie es, ihren Zustand vor
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