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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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über wie Gummihandschuhe, Mundschutz und Plastiküberschuhe, bevor ich mir die beiden Toten genauer ansah. Meine Arbeit wie der Münsteraner Tatort -Rechtsmediziner Professor Boerne in maßgeschneidertem Smoking und mit wehendem Seidenschal zu machen ist leider nicht erlaubt – abgesehen davon, dass mir dessen Kleidungsstil ohnehin nicht so liegt.
    Ich folgte dem Ermittler in den Flur, in der einen Hand den Tatortkoffer mit Pinzetten, Reizstromgerät, elektronischem Thermometer und Augentropfen, in der anderen Hand mein Laptop. In der Türöffnung zum Wohnzimmer blieb der Kommissar stehen und deutete mit einer Seitwärtsbewegung seines Kopfes auf den Fußboden vor sich.
    Der Leichnam von Ludmila Bergholz lag lang ausgestreckt und rücklings auf dem Fußboden des etwa 25 Quadratmeter großen Raums, der Kopf unmittelbar hinter der Türschwelle, während ihre Füße ins Rauminnere zeigten. Bekleidet war sie mit einem weißen Nachthemd, einem hellgelben Morgenmantel und Pantoffeln. Ihre Arme waren in den Ellenbogengelenken angewinkelt, die Handflächen ruhten auf ihrer Brust. Rechts neben den Füßen der Toten, direkt vor einer offensichtlich noch aus den Siebzigerjahren stammenden Einbauschrankwand mit zahlreichen Familienfotos und silberfarbenen Schälchen und Vasen, war ein Sessel umgestürzt. Abgesehen davon sah das Wohnzimmer aufgeräumt aus. Einen halben Meter vor ihren Füßen stand ein Rollator, rechts neben ihrem Kopf lagen eine Oberkieferzahnprothese und eine Erwachsenenwindel mit bräunlich angetrockneten »blutsuspekten Anhaftungen«. Weniger fachsprachlich gedrechselt ausgedrückt: An der Windel kleb te etwas, das nach getrocknetem Blut aussah. Blutsuspekte Anhaftungen oder »Antragungen« (man darf auch Kruste sagen) fanden sich auch um Mund- und Nasenöffnungen der Toten. An beiden Wangen, in Augen ober- und -unterlidern sowie hinter beiden Ohren zeigten sich in der Haut zahlreiche kleine punktförmige Einblutungen.
    Solche roten Punkte, meist nicht größer als ein bis zwei Millimeter im Durchmesser, sind charakteristisch für einen Tod infolge gewaltsamen Erstickens, also durch Erwürgen, Erdrosseln, Knebelung oder Zuhalten der Atemöffnungen. Die Einblutungen finden sich aber nicht nur in der Gesichtshaut, sondern am häufigsten und stärksten ausgeprägt in den Augenbindehäuten. Zu deren Untersuchung werden die Ober- und Unterlider beider Augen nacheinander mit einer Pinzette gefasst und dann quasi nach außen umgerollt und unter Zug gesetzt. Das hört sich martialisch an und sieht für den Unbedarften auch so aus, aber nur so liegt der Blick auf die Augenbindehäute frei, die sich ja sonst an der Innenseite der Augenlider einer genaueren Inspektion entziehen.
    Auch in den Augenbindehäuten von Ludmila Bergholz waren massenhaft dunkelrote, punktförmige Einblutungen vorhanden. Dem ersten Anschein nach war sie erstickt. Aber war sie auch erstickt worden ? Diese Frage würde die spätere Obduktion beantworten.
    Drei Meter von seiner toten Frau entfernt lag Wilhelm Bergholz auf einem Dreisitzersofa, ebenfalls in Rückenlage. Er trug einen grauen Pullover, eine schwarze Stoffhose und Socken. Vom Hals abwärts war er bis zu den Zehenspitzen mit einer Wolldecke zugedeckt. Sein rechter Arm hing von dem Sofa herab Richtung Fußboden, sein linker Arm ruhte angewinkelt auf seiner Brust. Über den Kopf von Wilhelm Bergholz waren zwei Plastiktüten gestülpt, vorne jedoch bis auf Stirnhöhe hochgeschoben, so dass sie den Blick auf das zahnlose Greisengesicht freigaben.
    Als die Tochter ihre Eltern gefunden hatte, reichten die übereinander gezogenen Plastiktüten noch bis zum Hals herunter, berichtete mir ein Kriminalbeamter, der mich während meiner Untersuchung der Toten in den aktuellen Stand der Ermittlungen einwies. Alexandra Stein hatte angegeben, außer den Plastiktüten über dem Kopf ihres toten Vaters in der Wohnung ihrer Eltern nichts verändert zu haben, bevor Polizei und Notarztwagenbesatzung eintrafen. Das Sanitäterteam war nach wenigen Minuten wieder abgezogen, da für das Ehepaar Bergholz jede medizinische Hilfe zu spät kam. Und Alexandra Stein hatte ihre Eltern zweifelsfrei identi fiziert, so dass diesbezüglich kein Handlungsbedarf für uns bestand.
    Als ich erst Ludmila und später Wilhelm Bergholz umdrehte, um an den Rücken zu kommen, und ihre Kleidung hochschob, sah ich sofort, dass die Leichenflecken stark ausgeprägt waren. Auch mit kräftigem Fingerdruck konnte ich sie nicht mehr

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