Der Totenleser
»wegdrücken«, was darauf hindeutete, dass beide zum Zeitpunkt meiner Untersuchung sehr wahrscheinlich schon mehr als zwanzig Stunden tot waren.
Für eine genauere Einschätzung maß ich die Körpertemperatur der beiden Toten sowie die Raumtemperatur an verschiedenen Stellen im Wohnzimmer und gab die Resultate in das Computerprogramm zur Todeszeitbestimmung in meinem Laptop ein. Das Ergebnis: Ludmila und Wilhelm Bergholz waren ungefähr zeitgleich gestorben, nämlich am Vortag zwischen neun und dreizehn Uhr. Da Alexandra Stein ihre Eltern das erste Mal an diesem Tag gegen kurz nach zehn Uhr vergeblich zu erreichen versucht hatte, lag aus Sicht der Ermittler die Vermutung nahe, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren.
Meine Untersuchungen am Leichenfundort des Ehepaares Bergholz waren damit abgeschlossen.
Eine Stunde später trafen die für den Fall zuständigen Ermittler der Berliner Mordkommission und zwei Kriminaltechniker im Rechtsmedizinischen Institut ein. Fast zeitgleich fuhr auch der Kraftfahrdienst unseres Instituts mit den Toten vor. Nachdem die Kriminaltechniker die Fingerabdrücke von Ludmila und Wilhelm Bergholz abgenommen hatten, um sie später im Labor mit den am Leichenfundort gesicherten Fingerspuren zu vergleichen, begannen wir mit den Obduktionen.
Ich entfernte das verkrustete Blut um Mund- und Nasenöffnungen von Ludmila Bergholz. Dazu befeuchtete ich einen Wattetupfer mit steriler Kochsalzlösung und deponierte ihn anschließend in einem ebenfalls sterilen Plastikgefäß.
In dem grellen Neonlicht des Sektionssaales zeigten sich die punktförmigen Einblutungen in der Gesichtshaut und den Augenbindehäuten der Toten noch viel deutlicher. Ich sah mir die Lippen und Nase der Toten genauer an. Die Schleimhaut von Ober- und Unterlippe war vertrocknet und entsprechend bräunlich, ebenso die Haut über der Oberlippe, an Nasenspitze und Nasenflügeln sowie am Kinn. Solche »Hautvertrocknungen« entstehen, wenn zu Lebzeiten Hautabschürfungen auftreten. Indem sich die oberste Hautschicht ablöst, kommt es in der darunter liegenden Hautschicht zu einem Wasserverlust durch Verdunstung. Nach einiger Zeit bildet sich an den abgeschürften Stellen ein hellbrauner oder rötlicher Schorf – ein diskreter, aber dennoch in Fällen wie diesem entscheidender Hinweis auf das, was geschehen war.
Als Nächstes sah ich mir den Mund der Toten an. Dabei setzte ich auch zur Probe die Oberkieferzahnprothese ein, die neben dem Kopf der Leiche gelegen hatte, und stellte fest, dass sie passte. Im Unterkiefer hatte Ludmila Bergholz noch eigene Zähne. Als ich ihre Unterlippe mit leichtem Zug nach außen vorwölbte, sah ich, dass die Schleimhaut verletzt war. Bei leichtem Druck gegen die Zahnreihe des Unterkiefers zeigte sich, dass die verletz ten Stellen auf die Kauflächen der Schneide- und Eckzähne passten. So fest beißt sich niemand selbst. Dieser Befund, zusammen mit den punktförmigen Einblutungen und den verschorften Partien um Mund und Nase, ließ nur einen Schluss zu: Ludmila Bergholz war erstickt, weil ihr jemand gewaltsam Mund- und Nasenöffnung zugehalten hatte. Sehr wahrscheinlich war hierfür die Windel, die neben dem Kopf von Ludmila Bergholz gelegen hatte, verwendet worden. Aber das würde schon bald die Untersuchung der Windel im Labor ergeben.
Die übrigen Obduktionsbefunde von Ludmila Bergholz’ Leiche waren eher unspektakulär. In den inneren Organen stellte ich eine akute Blutstauung fest (die sich daran zeigte, dass beim Einschneiden sehr viel Blut von den Schnittflächen der Organe abfloss), und in den Blutgefäßen war auffallend viel flüssiges Blut. Beides sind für sich genommen unspezifische Befunde – sie allein lassen also keine eindeutigen Rückschlüsse auf das Tatgeschehen zu –, aber im Kontext der anderen, eindeutigen Belege waren sie weitere Hinweise für einen Tod durch Ersticken.
Die chemisch-toxikologischen Untersuchungen von Blut und Urin verliefen negativ.
Die Obduktion von Wilhelm Bergholz ergab, dass auch er erstickt war, allerdings nicht auf so brutale Art und Weise wie seine Frau.
Im Magen und im Zwölffingerdarm des Toten fand ich wenige Milliliter einer flüssigen, hellbraunen Substanz, durchsetzt mit grauweißen, griesartigen Körnern – allem Anschein nach Reste von Tabletten. Die musste Wilhelm Bergholz bereits einige Zeit vor seinem Tod geschluckt haben, da sie zum Teil bereits bis in den Zwölffingerdarm gelangt waren.
Die chemisch-toxikologische
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