Der Totenleser
einem »Menschen«, was der Ehrfurcht vor den Toten geschuldet ist.
Und in § 168 des deutschen Strafgesetzbuches ist zur Störung der Totenruhe unter anderem festgelegt:
»Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«
Dabei gilt schon der Versuch als strafbar und wird entsprechend geahndet.
Natürlich kam die diensthabende Ärztin der Rechtsmedizin den Bestattern in diesem Fall nicht zu Hilfe. Wie die Bergung bewerkstelligt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie gesagt: Es war kein Fall für die Rechtsmedizin.
Diesen zwei Beispielen dafür, wie die Körperfülle Verstorbener ihren Transport erheblich erschwert, könnten meine Kollegen und ich noch andere ähnliche Anekdoten hinzufügen. Leider sind diese Geschichten aber durchaus auch Ausdruck einer ungesunden Entwicklung: Während die Sektionstische in den letzten Jahrenzunehmend schmaler wurden (um die Sektionssäle klein und damit die Betriebskosten möglichst gering zu halten), haben Übergewicht und Fettsucht – oder vornehmer ausgedrückt Adipositas (von lateinisch adeps = Fett) in den letzten Jahrzehnten auch in der deutschen Bevölkerung stark zugenommen. Mittlerweile erreicht diese Problematik den Sektionssaal, weil immer mehr Fettsüchtige das durchschnittliche Sterbealter erreichen. Dadurch werden wir zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert, die es früher nur in Ausnahmefällen gab: Wie obduzieren wir einen Verstorbenen, der annähernd 300 Kilogramm wiegt? Stellen wir uns bei der Obduktion auf einen Fußtritt, um überhaupt die Brust- und Bauchhöhle aufschneiden und die Organe entnehmen zu können? Hält der Obduktionstisch das Gewicht des schwergewichtigen Toten überhaupt aus, oder laufen wir Gefahr, eine sehr ungewöhnliche Art von Arbeitsunfall zu provozieren, wenn sich beim Zusammenbrechen eines Obduktionstisches einer der Obduzenten oder Sektionsassistenten verletzt?
Laut WHO ist die Adipositas das weltweit am schnellsten wachsende zentrale Gesundheitsproblem. Der Gesundheitsbericht 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. ist erschreckend. Über die Hälfte der deutschen Frauen sind übergewichtig, bei den Männern sind es sogar fast 70 Prozent. Männer sind nicht nur in allen Altersgruppen häufiger übergewichtig als Frauen, normalgewichtige Männern sind bereits ab 35 Jahren in der Minderheit. Bei Frauen liegt die Grenze bei 55 Jahren.
Neben dem Verlust von subjektiver Lebensqualität erhöht sich bei Übergewichtigen das Risiko für Erkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit (Verengung der Herzkranzgefäße durch Arteriosklerose) und Diabetes dramatisch. Statistisch gesehen führt Adipositas zu einer verkürzten Lebenserwartung. US-amerikanische Forscher haben die Auswirkung von Übergewicht und Fettsucht auf die zukünftige Altersentwicklung der Bevölkerung untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Lebenserwartung in den USA entgegen aller Prognosen zurückgehen wird, statt weiterhin anzusteigen, wie es aufgrund der immer besseren medizinischen Versorgung seit Jahrzehnten der Fall war. Vor allem durch den hohen Anteil übergewichtiger Kinder erhöht sich bereits in jungen Jahren das Risiko von Diabetes, Herzkrankheiten und anderen Begleit- und Folgeerkrankungen so stark, dass die Lebenserwartung dieser Betroffenen als Erwachsene drastisch sinken könnte. Die zukünftigen Generationen würden dann erstmals in der modernen Geschichte im Durchschnitt nicht so lange leben wie ihre Eltern.
Fürimmer vereint
Alexandra Stein hielt es zu Hause nicht mehr aus. Ihre anfängliche Beunruhigung hatte sich schon gestern den ganzen Tag über immer weiter gesteigert. Warum meldeten sich ihre Eltern nicht? Dass sie nicht ans Telefon gingen, passte so gar nicht zu Ludmila und Wilhelm Bergholz, 86 beziehungsweise 88 Jahre alt, die ihr Haus eigentlich niemals länger als drei Stunden verließen und sonst immer die mehrfachen täglichen Telefonanrufe ihrer ältesten Tochter nicht nur erwartet, sondern regelrecht eingefordert hatten. Irgendwas stimmte hier nicht. Nach einer fast schlaflosen Nacht beschloss Alexandra Stein, nach dem Rechten zu sehen, und fuhr zu der von ihren Eltern bewohnten Doppelhaushälfte im Nordosten Berlins. Von
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