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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Untersuchung belegte meine Vermutung: Es waren tatsächlich Tablettenreste, und die enthielten Lorazepam, ein starkes Beruhigungsmittel ähnlich dem als Valium erhältlichen Diazepam. Allerdings waren die in Blut und Urin gemessenen Konzentrationen des Wirkstoffes zu gering für eine tödliche Dosis. Auch hatte Wilhelm Bergholz an keiner schweren Erkrankung gelitten, die seinen Tod hätte erklären können. Wilhelm Bergholz war unter den zwei über seinen Kopf gezogenen Plastiktüten erstickt.
    Zwei Tage später wurde das Todesermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen hatten keine Anhaltspunkte für eine Fremdschuld am Tod der beiden alten Menschen ergeben. Weder an der Wohnungstür noch am Schloss der von ihnen bewohnten Doppelhaushälfte gab es Spuren eines gewaltsamen Öffnens oder sonstige Beschädigungen. Alle Fenster des Hauses waren geschlossen gewesen. In einer Kommode im Flur und in einem Küchenschrank lagen gut sichtbar größere Bargeldbeträge, was einen Raubmord mehr als unwahrscheinlich machte. Außerdem fanden sich im ganzen Haus keine anderen Fingerabdrücke als die des Ehepaars Bergholz und ihrer Tochter. Im Polizeibericht hieß es unter anderem: »Anzeichen für den Empfang von Besuch oder ein Betreten des Hauses durch Dritte waren nicht vorhanden.« Im Schlafzimmer im ersten Stock hatten die Ermittler neben den sehr sorgfältig geordneten persönlichen Unterlagen und einem erst am Morgen ihres Todes verfassten Testament Informationsbroschüren mehrerer Sterbehilfe-Organisationen gefunden.
    Die Laboruntersuchungen der Erwachsenenwindel lieferten später den Beweis, dass Ludmila Bergholz damit erstickt worden war. Die hellroten Anhaftungen stellten sich wie erwartet als Blut der Toten heraus. Da sie keine weiteren Verletzungen aufwies, musste es von der Verletzung an der Innenseite ihrer Unterlippe stammen. Die war entstanden, als ihr Mann ihr die Windel auf den Mund gepresst hatte.
    Ein anderer Täter kam nicht in Frage. An der Windel ließ sich sowohl die DNA von Ludmila als auch von Wilhelm Bergholz nachweisen, andere DNA-Spuren fanden sich nicht. Und dass Ludmila Bergholz sich selbst mit der Windel erstickt haben könnte, ist ausgeschlossen. Sobald sie durch die fehlende Sauerstoffzufuhr das Bewusstsein verloren hätte, wäre sofort ihre Armmuskulatur (wie die gesamte übrige Muskulatur ihres Körpers auch) erschlafft, weshalb sie nicht hätte weiter auf die Windel drücken können. Nach einiger Zeit hätte sie dann ihr Bewusstsein wiedererlangt. Sich auf diese Art selbst zu ersticken ist nicht möglich.
    Das wusste wohl auch Wilhelm Bergholz, wählte er doch für sich eine andere Methode. Nachdem er seine rücklings auf dem Wohnzimmerboden liegende Frau mit Hilfe der Windel erstickt hatte, legte er sich auf die Couch und zog zwei Plastiktüten über seinen Kopf, um auch seinem Leben ein Ende zu setzen.
    »In den letzten Monaten haben meine Mutter und mein Vater hin und wieder angedeutet, sie würden sich das Leben nehmen, wenn sie nicht mehr zurechtkämen«, hatte Alexandra Bergholz den ermittelnden Beamten erzählt. »Aber ich hatte immer angenommen, das sei nur eine drastische Äußerung ihrer Ängste, und war nie wirklich alarmiert.«
    Der Tod von Ludmila und Wilhelm Bergholz ist ein typischer Alterssuizid. Im Alter wird Frauen wie Männern der näher rückende Tod immer bewusster, erst recht, wenn der körperliche Verfall schon deutlich spürbar ist. Darüber hinaus nimmt auch die Angst vor dem Sterben des Partners zu. Vor diesem Hintergrund sprechen Suizidforscher im Zusammenhang mit Suiziden alter Menschen häufig von einem ganzen »Motivbündel« aus psychischen, physischen und sozialen Faktoren, das sie zu dieser Entscheidung veranlasst – im Gegensatz zu Suiziden jüngerer Menschen, bei denen nicht selten ein einziges Motiv (Trennung, schwere Erkrankung, Verlust des Arbeitsplatzes) den alleinigen und spontanen Anlass zum Freitod gibt.
    Gleichzeitig ist der Fall des Ehepaares Bergholz ein typisches Beispiel für einen »gemeinschaftlichen Suizid«. Ludmila und Wilhelm Bergholz beschlossen gemeinsam, ihr Leben zu beenden, bevor das eintreten konnte, wovor sie sich so fürchteten: durch Tod oder Altersheim auseinandergerissen zu werden.
    Der Begriff des »gemeinschaftlichen Suizids« muss dabei sehr genau von dem des »erweiterten Suizids« unterschieden werden, den Sie im zweiten Kapitel kennengelernt haben. Beim

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