Der Totenleser
gemeinschaftlichen Suizid treffen meist zwei Menschen (selten mehr) einvernehmlich die Entscheidung, zu sterben. Meist haben sie zuvor in einer festen, oft langjährigen Partnerbeziehung gelebt, häufigste Suizidmotive sind hier schwere körperliche Krankheiten oder Altersgebrechlichkeit. Typischerweise wählen die Betroffenen dieselbe Suizidmethode, zum Beispiel Vergiftung mit Schlafmitteln oder Psychopharmaka, Erschießen, Sprung aus der Höhe oder – wie im Fall des Ehepaares Bergholz – Tod durch Ersticken. In vielen Fällen nehmen sich die Partner zeitgleich das Leben. Wie beim erweiterten Suizid gibt es aber auch beim gemeinschaftlichen Suizid die Konstellation, dass einer der beiden Suizidenten zunächst den anderen tötet und danach sich selbst. Trotzdem handelt es sich in diesen Fällen definitionsgemäß nicht um einen erweiterten Suizid, da die Tötung des anderen auf einem gemeinsamen Entschluss beruht und wie bei Ludmila und Wilhelm Bergholz gemeinsam geplant wurde.
Diese strenge Unterscheidung ist deshalb so wichtig, weil derjenige, der zunächst Partner oder Partnerin tötet, den eigenen Suizid überleben könnte. Gibt es in einem solchen Fall ausreichende Indizien für einen erweiterten Suizid, wird der Überlebende wegen eines Tötungsdeliktes angeklagt und gegebenenfalls verurteilt. Ein gemeinschaftlicher Suizid dagegen hat für den Überlebenden so gut wie nie ein juristisches Nachspiel.
Froh wird ihn oder sie das dann aber wohl kaum stimmen.
Nachdem Alexandra Stein ihre toten Eltern gefunden hatte und spätabends nach Hause zurückkehrte, fand sie in ihrem Briefkasten ein Schreiben. Der Brief war von ihrem Vater Wilhelm Bergholz verfasst und unterschrieben worden, trug aber auch die zittrige Unterschrift ihrer Mutter. In diesem Abschiedsbrief an seine einzige Tochter, abgeschickt am Morgen ihres Todes tages, schilderte Wilhelm Bergholz in prägnanten Worten die Angst der beiden alten Menschen davor, den Partner zu überleben und ohne ihn weiterleben zu müssen. Und sie fürchteten sich beide zutiefst davor, ihre zunehmend eingeschränkte Selbständigkeit bald ganz zu verlieren und in ein Pflegeheim umziehen zu müssen: Auch wenn Du das nicht verstehen wirst, wir fürchten das Pflegeheim mehr als den Tod.
Vielleicht nicht weniger erschütternd, aber zum Glück deutlich seltener ist eine Sonderform des gemeinschaftlichen Suizides: der »rituelle Massensuizid«. Die Opfer sind fast immer Mitglied einer Sekte. Großes Aufsehen erregte zum Beispiel im Oktober 1994 der Tod von 53 Mitgliedern des »Ordens der Sonnentempler« in der Schweiz oder der Massensuizid von 39 Mitgliedern der Sekte »Heaven´s Gate« in einer Villa nahe dem kalifornischen San Diego im März 1997.
Bei den Todesfällen der Sonnentempler gelangten die Ermittlungsbehörden zu dem Schluss, dass der Großteil der Opfer aus juristischer Sicht durch Mord oder Tötung auf Verlangen gestorben war.
Bei den toten Sektierern von Heaven´s Gate scheint es sich tatsächlich um die Opfer eines echten Massensuizids zu handeln. Die Mitglieder der Sekte lebten in dem Glauben, dass der Tod die Erlösung sei und eine »Transzendenz in den Weltraum« mit Hilfe von Außer irdischen ermöglichen würde. Die Mitglieder dieser Sekte vermuteten ein verstecktes UFO hinter dem Kometen Hale-Bopp, dem am meisten beobachteten Himmelskörper des 20. Jahrhunderts und einem der hellsten Kometen überhaupt, der von 1995 bis 1997 mit dem bloßen Auge am Nachthimmel zu erkennen war. In dem festen Glauben, dieses UFO würde sie nach ihrem Tod in ihr neues Leben bringen, wählten sie im März 1997 die Zeit, in der der Komet der Erde am nächsten kam, für ihren Massensuizid. Bevor die ganz in Schwarz gekleideten Sektenmitglieder im Alter von 26 bis 72 Jahren starke Schlafmittel einnahmen, sich Plastiktüten über den Kopf stülpten und zum Sterben hinlegten, deponierten sie ihre Ausweispapiere oder andere persönliche Dokumente neben sich, die ihre Identifizierung durch die Polizei ermöglichen sollten.
Natürlich drängt sich hier zu Recht die Frage auf, inwiefern bei solchen Massensuiziden von Sektenmitgliedern die Entscheidung zur Selbsttötung wirklich dem eigenen, freien Willen entspricht. In jedem Falle trübt religiöser Fanatismus in Kombination mit Gruppendynamik, Drogen und Psychopharmaka ganz sicher die Zurechnungsfähigkeit und die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Aber die Antwort auf diese Frage liegt so weit außerhalb meiner Zuständigkeit,
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