Der Totenleser
einem unguten Gefühl getrieben, nahm sie sich nicht mehr die Zeit, zu klingeln, sondern öffnete mit ihrem Zweitschlüssel die Haustür.
Um halb zwei desselben Tages erhielt ich einen Anruf der Mordkommission, in dem mir der zuständige Kriminalkommissar von dem Anruf einer Frau berichtete, die ihre toten Eltern in deren Haus gefunden hatte.Anschließend schilderte er mir in knappen Worten, dass ein natürlicher Tod bei dem Paar nicht in Betracht käme. Möglicherweise hätten wir es mit einem zweifachen Tötungsdelikt zu tun.
Eine halbe Stunde später bot sich mir vor Ort ein vertrautes Bild: In der Garageneinfahrt neben dem Haus parkten zwei Streifenwagen, allerdings ohne Blaulicht oder gar Martinshorn. In der realen Polizeiarbeit geht es an den Tat- oder Fundorten sehr viel dezenter zu als im Fernsehkrimi.
Aus den Fenstern der umliegenden Häuser starrten zahlreiche Schaulustige zu uns herunter, auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten sich tuschelnde Nachbarn und Passanten versammelt. Wenige Meter vom Haus des Ehepaares Bergholz entfernt standen zwei VW-Kleintransporter der Spurensicherung. Mit diesen großräumigen Fahrzeugen transportieren die Kriminaltechniker ihre sämtlichen Utensilien, die sie an einem Leichenfundort beziehungsweise Tatort benötigen könnten.
Im Haus selbst herrschte geschäftiges Treiben. Zwei Ermittler in weißen Schutzanzügen, mit Gummihandschuhen und Mundschutz vor dem Gesicht verschwanden gerade über eine Treppe in die erste Etage. An einer Kommode im Eingangsbereich sicherte ein ebenfalls ganz in Weiß gekleideter Kriminaltechniker Fingerabdrücke. Aus einer etwas weiter entfernten Türöffnung, die vom Flur abging, sah ich mehrfach das Blitzlicht einer Kamera. Der Polizeifotograf war also schon dabei, die Szenerie zu dokumentieren. Im Eingangsbereich des Hauses standen mehrere geöffnete Aluminiumkoffer der Kollegen von der Kriminaltechnik, darin lagen verschiedene Gegenstände und Utensilien bereit, die bei der Spurensicherung an einem Tatort benötigt werden. Neben Plastik- und Papiertütchen unterschiedlicher Größe, Pinzetten aus Metall und Plastik, kleineren und größeren Plastikbehältern für Asservate, Digitalkameras mit verschiedenen Objektiven und Plastikklebeband zur Asservierung von Faserspuren lagen in den Koffern mehrere verschweißte Plastikbeutel mit Schutzanzügen.
Diese Ganzkörper-Overalls zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst keine Textilfasern abgeben (sie sind aus sogenanntem Endlos-Faser-Vlies hergestellt) und zudem verhindern, dass die Kleidung darunter einen Tatort mit zusätzlichen Faserspuren kontaminiert und die Suche nach tatrelevanten Spuren erschwert. Erst recht sollen die Ermittler an einem Tatort nicht ihre eigene DNA hinterlassen und auf diese Weise »Fremdspuren« legen, denn die müssten später mit aufwendigen DNA-Analysen von den DNA-Spuren am Tatort getrennt werden, die tatsächlich von Täter und Opfer herrühren. Zu diesem Zweck tragen die Beamten neben der Kapuze des Schutzanzuges auch einen Mundschutz, der beim Sprechen mit den Kollegen auch kleinste Speicheltröpfchen auffängt. Auch die Gummihandschuhe sollen natürlich unter anderem verhindern, dass die Kriminalisten bei ihrer Arbeit Fingerabdrücke oder Hautschüppchen (und damit wiederum DNA-Spuren) hinterlassen. Plastiküberziehschuhe, die in manchen Schutzanzugmodellen als Füßlinge bereits integriert sind, komplettieren das Bild.
Übrigens ist die Erkenntnis, dass jeder Täter an einem Tatort Spuren hinterlässt wie zum Beispiel Textilfasern der von ihm getragenen Kleidung, Fingerabdrücke, Haare, Hautschüppchen, Blut oder Sperma, schon über einhundert Jahre alt. Sie stammt von dem französischen Mediziner und Juristen Edmond Locard, einem der wesentlichen Mitbegründer der modernen Kriminaltechnik, der damit die polizeiliche Ermittlungsarbeit revolutioniert hat.
In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, lieber Leser, bedauerlicherweise auch die Illusion rauben, dass wir Rechtsmediziner am Tatort nebenbei auch noch die Arbeit der Kriminaltechniker erledigen wie unsere Fernsehkollegen von CSI und Co. Das ist keineswegs der Fall. Ich selbst tröste mich darüber immer damit hinweg, dass Polizeibeamte ja auch keine Obduktionen durchführen.
Der Ermittler der Spurensicherung (in der Polizeisprache offiziell als »SpuSi« abgekürzt, nicht zu verwechseln mit dem bayrischen Gschpusi ) reichte mir einen noch verpackten Overall. Den streifte ich mir ebenso
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