Der Totenleser
dass ich mich hier mit einem Kopfschütteln begnügen möchte.
ImGriff des Vulkaniers
Bevor die Hauptverhandlung eröffnet wurde, ließ ich meinen Blick durch den gut gefüllten Gerichtssaal schweifen. Die fünf Richterstühle – für die drei Berufsrichter und die zwei Schöffen – waren noch nicht besetzt. Doch der Angeklagte und sein Anwalt standen schon am Tisch der Verteidigung und redeten in leisem, aber offenbar angespanntem Ton miteinander. Die Spannung, die über dem Gerichtssaal lag, war mit Händen zu greifen. Kein Wunder, ging es doch hier und heute um nicht weniger als um die Aufklärung eines möglichen Justizirrtums. Und nicht nur das: Verhandelt wurde ein Verbrechen im Dunstkreis der Mafia – wobei am Rande auch Mr. Spock von der Enterprise eine Rolle spielen sollte.
Aber der Reihe nach: Was war passiert?
Aleksej Wladimirowitsch, achtunddreißig Jahre alt, war acht Wochen vor der zu verhandelnden Tat aus Weißrussland mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in Russland gelebt, wo er sechs Jahre zu einer Spezialeinheit des militärischen Nachrichtendienstes gehört hatte, deren Aufgabengebiet neben Sabotage und Spionage auch die Terrorismusbekämpfung war. Wladimirowitsch hielt sich immer mal wieder für jeweils einige Wochen in Deutschland auf und erledigte »Jobs« im Dunstkreis der russischen Mafia. Jetzt sollte er bei einem gewissen Ino Jungmann Schulden über 14 500 Euro eintreiben. Jungmann bestritt seinen Lebensunterhalt mit Diebstahl und Hehlerei und war mehrfach wegen Körperverletzung und räuberischer Erpressung vorbestraft. Erst ein halbes Jahr zuvor aus der Haft entlassen, wurde er bereits wieder per Haftbefehl von der Polizei gesucht.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen per Telefon und einem kurzen persönlichen Treffen fasste Wladimirowitsch den Entschluss, seine Forderungen mit körperlicher Gewalt durchzusetzen. Er überredete Jungmann zu einem erneuten Treffen, indem er behauptete, er könne ihm seine Schulden erlassen, wenn Jungmann dafür zwei kleinere »Aufträge« erledige, die er an diesem Abend detailliert mit ihm besprechen wolle. Als Treffpunkt wählte er die Wohnung eines Freundes, des aus der Ukraine stammenden 22-jährigen deutschen Staatsangehörigen Ustin Kolesnikow.
Um acht Uhr abends, pünktlich zur verabredeten Zeit, traf Ino Jungmann am Treffpunkt ein, alleine und in dem guten Glauben, dass man eine Lösung für seine finanziellen Probleme finden werde. Als Jungmann an der Wohnungstür klingelte, versteckte sich Wladimirowitsch hinter einem frei stehenden Dreisitzersofa im Wohnzimmer. Kolesnikow öffnete die Tür und führte den Besucher ins Wohnzimmer, wo er ihn bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er behauptete, Wladimirowitsch sei aufgehalten worden, werde aber jeden Moment eintreffen.
Kaum hatte Jungmann sich gesetzt, erhob sich Wladimirowitsch, warf ihm von hinten ein anderthalb Meter langes Nylonseil um den Hals und zog mit aller Kraft zu. Nach anfänglicher heftiger Gegenwehr wurde Jungmann schließlich bewusstlos – und starb.
Sofort verschnürten Wladimirowitsch und Kolesnikow den Toten, indem sie den Oberkörper auf die Oberschenkel drückten, bis der Kopf zwischen den Knien steckte, und ihn in dieser Position mehrfach mit Paket-band umwickelten. Die verschnürte Leiche stopften sie in einen Bettüberzug und verfrachteten das Bündel von der Wohnung im Erdgeschoss durch den Hofausgang direkt in den davor geparkten Kombi von Kolesnikow. Eine Dreiviertelstunde später erreichten sie ein zuvor ausgekundschaftetes Waldstück. Dort wickelten sie im Scheinwerferkegel des Pkw den toten Jungmann aus dem Bettbezug und entfernten das Klebeband von seinem Körper, bevor sie eilig verschwanden.
Schon am Nachmittag des folgenden Tages stießen Pilzsammler auf die Leiche.
Knapp zwei Wochen später wurden Aleksej Wladimirowitsch und Ustin Kolesnikow als dringend tatverdächtig festgenommen. Ein anonymer Anrufer hatte der Polizei einen Tipp gegeben. Bereits in der ersten Vernehmung schilderte Kolesnikow, auf Strafmilderung spekulierend, den Kriminalbeamten minutiös das Geschehen am Tattag.
Nur wenige Monate nach der Tat wurde der Fall vor einer großen Schwurgerichtskammer des Landgerichts Gera in Thüringen verhandelt. Das Urteil: Der bereits mehrfach vorbestrafte Kolesnikow kam als Mittäter einer gefährlichen Körperverletzung mit einem Jahr Freiheitsstrafe davon. Er hatte das Gericht davon überzeugen
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