Der Totenleser
können, dass er sich an den Vorbereitungen in dem Glauben beteiligt hatte, dass der zahlungsunwillige Jungmann nur verprügelt und anschließend in der Dunkelheit im Wald ausgesetzt werden sollte. Aleksej Wladimirowitsch dagegen wurde ein geplanter Mord vorgeworfen. Schuld daran war nicht zuletzt dessen akribische Tatvorbereitung. Die Richter glaubten zum Beispiel nicht, dass jemand, der nur einen zuvor verprügelten Mann aussetzen will, eigens ein bestimmtes Waldstück dafür auskundschaftet. Doch entscheidender war, dass der Geldeintreiber sich am Vormittag des Tattages im Vorhinein ein Alibi regelrecht inszeniert hatte: Wladimirowitsch hatte einem Bekannten seine Visa-Karte samt dazugehöriger PIN-Nummer übergeben, außerdem eine Lederjacke sowie eine Schirmmütze aus seinem Besitz. Dazu wies er ihn an, am Abend des Treffens mit Jungmann in einer fast dreihundert Kilometer entfernten Kleinstadt an einem Geldautomaten zweihundert Euro mit der Kreditkarte abzuheben. Dabei sollte er Wladimirowitschs Lederjacke tragen und darauf achten, dass er die Schirmmütze tief ins Gesicht zog und der Kamera in dem Vorraum der Bank, in dem sich der Geldautomat befand, immer den Rücken zudrehte. Abends erhielt der so Beauftragte eine SMS von Wladimirowitsch, das vereinbarte Startsignal, jetzt das Geld abzuheben. All dies bestätigte der Bekannte als Zeuge bei der Verhandlung.
Diese Alibi-Inszenierung sah das Gericht als Beweis dafür an, dass Wladimirowitsch seinem Opfer keineswegs nur »eine Abreibung verpassen« wollte. Entsprechend verurteilten sie den Weißrussen wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Dieses Urteil wird Sie nach dem, was Sie über das Tatgeschehen gelesen haben, wahrscheinlich nicht wundern. Überraschender wirkt dagegen schon die Beteuerung des Angeklagten, er hätte zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, Ino Jungmann zu töten. Der Anwalt des Verurteilten legte Revision ein – und hatte damit Erfolg.
Der zuständige Bundesgerichtshof hob das Urteil gegen Wladimirowitsch auf und wies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück an eine andere Große Schwurgerichtskammer des Landgerichts Gera. Der entscheidende Strafsenat des Bundesgerichtshofs war nach näherer Prüfung des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt, dass die Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts der ers ten Großen Strafkammer in mehreren Punkten lückenhaft und widersprüchlich sei. Dies betreffe nicht nur die mutmaßliche Tötungsabsicht von Wladimirowitsch gegenüber Jungmann, sondern auch den genauen Ablauf der Tötungshandlung.
Und deshalb saß ich gut ein Jahr nach der ersten Verhandlung in diesem Gerichtssaal und beobachtete, wie die drei Richter und zwei Schöffen jetzt den Saal betraten und der Vorsitzende Richter kurz darauf die zweite Hauptverhandlung im Fall Jungmann eröffnete.
Den Angeklagten sah ich heute zum ersten Mal in natura, ebenso seinen Mittäter, der hier allerdings nur als Zeuge geladen war – sein Urteil war inzwischen rechtskräftig und stand also nicht mehr zur Debatte. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Wenn ich vor Gericht geladen werde, kenne ich den mutmaßlichen Täter fast immer nur von Fotos. Doch in diesem Falle kannte ich auch das Opfer nur von Fotos. Weder war ich am Fundort der Leiche gewesen, noch hatte ich die Obduktion durchgeführt. Was ich über den Fall wusste, war das Resultat eines ausführlichen Aktenstudiums, zu dem mich die Vorladung der Strafkammer als Obergutachter verpflichtet hatte.
Als »Obergutachter« wird ein rechtsmedizinischer Sachverständiger bezeichnet, der bisher mit dem Fall nicht befasst war und dessen »gutachterliche Stellungnahme« nun gehört wird. Der primär in den Fall involvierte Rechtsmediziner, also derjenige, der nach dem Fund im Wald die Leiche obduziert hatte, nahm ebenfalls an der Verhandlung teil. Ein Obergutachter wurde aber deshalb nötig, weil der Rechtsanwalt von Aleksej Wladimirowitsch in seiner Revisionsbegründung unter anderem die Interpretation der Obduktionsbefunde durch das Gericht angefochten hatte. Zu denen sollte ich bei der neuen Hauptverhandlung des Falles ausführlich Stellung beziehen.
Stein des Anstoßes für die Verteidigung waren dabei aber nicht bestimmte Befunde, sondern deren Fehlen: An der Leiche von Ino Jungmann hatte sich weder eine »relevante Stauungssymptomatik« gezeigt noch punktförmige Blutungen in den Augenbindehäuten. Beides wäre nach einem Tod durch Erdrosseln eigentlich zu erwarten
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