Der Totenleser
gewesen.
Erdrosseln gehört neben Erhängen und Erwürgen zu den Strangulationsarten, denen wir in der Rechtsmedizin immer wieder begegnen. Damit gemeint ist ein Zusammendrücken (Kompression) der Halsweichteile durch ein Drosselwerkzeug wie Seil oder Gürtel statt mit den bloßen Händen wie beim Erwürgen. Durch das enge Umschnüren des Halses kann deutlich weniger sauerstoffreiches Blut als sonst zum Gehirn fließen. Auch die Halsvenen, die in entgegengesetzter Richtung der Arterien das sauerstoffarme Blut wieder vom Gehirn wegtransportieren, werden durch das Drosselwerkzeug komprimiert. Tödlich ist beim Erdrosseln also letztlich ein Sauerstoffmangel des Gehirns durch die mangelnde Blutversorgung und nicht etwa eine Behinderung der Einatmung durch das Zudrücken der oberen Luftwege. Zwar kann beim Erdrosseln auch die Luftröhre zusammengedrückt werden, sie ist aber viel stabiler als die Blutgefäße am Hals und setzt damit dem Druck durch das Seil oder den Gürtel, mit dem gedrosselt wird, wesentlich mehr Widerstand entgegen. Sie so weit einzuengen, dass die behinderte Atmung zum Tode führt, ist schlicht nicht möglich. Das Gleiche gilt – zumindest bei Erwachsenen – für den Kehlkopf.
Typisch für Todesfälle durch Erdrosseln ist eine in der Regel sehr ausgeprägte Stauungssymptomatik von Kopf-, Gesichts- und Halshaut und der darunter gelegenen Weichteile. Das liegt daran, dass über die Halsschlagadern, die etwas tiefer in den Halsweichteilen verlaufen als die Venen und zudem eine dickere Gefäßwand haben, während des Erdrosselns meist noch etwas Blut in Kopf und Gesicht fließt. Die direkt unter der Halshaut gelegenen Halsvenen mit ihren dünneren Gefäßwänden werden dagegen vollständig abgedrückt. Als Folge kann das in Kopf und Gesicht strömende Blut nicht mehr abfließen. Bei der äußeren Leichenschau von Erdrosselten zeigt sich diese Blutstauung als eine massive Schwellung der Gesichtsweichteile und dunkelrote bis violette Verfärbung der Gesichtshaut und der Halshaut. Das Gesicht einschließlich der Augenlider und Lippen eines Erdrosselten wirkt dadurch regelrecht »aufgedunsen«.
Neben meist massiven Verletzungen von Kehlkopf und Zungenbein in Form von Frakturen und Blutungen sind die bereits im vorigen Kapitel näher erklärten punktförmigen Blutungen (»Erstickungsblutungen«) ein weiteres Charakteristikum für einen Tod durch Erdrosseln. Diese finden wir bei der Leichenschau typischerweise in den Augenbindehäuten sowie in der Gesichtshaut. Diese punktartigen Blutungen – wegen ihres Aussehens von manchen Rechtsmedizinern auch als »flohstichartige« Blutungen bezeichnet – sind für den Rechtsmediziner ein Hinweis darauf, dass der Drosselvorgang mindestens zwanzig Sekunden lang angedauert hat. Ab diesem Zeitpunkt besteht für das Opfer akute Lebensgefahr, sowohl weil er oder sie bewusstlos werden und sich nicht mehr wehren kann als auch durch den Sauerstoffmangel und eine dadurch bedingte Schädigung von Hirnzellen.
Bei Ino Jungmann hatte der obduzierende Rechtsmediziner weder punktförmige Blutungen in den Augen binde häuten gefunden, noch war das Gesicht des Toten so aufgedunsen wie sonst bei Erdrosselten. Darin sah der Verteidiger von Aleksej Wladimirowitsch ein Indiz dafür, dass sein Mandant Jungmann nicht zu Tode gedrosselt haben konnte. Das entsprach der Tatversion des Angeklagten. Er behauptete nämlich, dass er mit dem Seil, das er von hinten über Jungmann geworfen hatte, nur den Oberkörper habe fixieren wollen. Dabei sei das Seil jedoch aus Versehen hochgerutscht und um den Hals geraten. Jungmann habe sich heftig gewehrt und versucht, sich aus dem Seil zu befreien. Da sein Komplize keine Anstalten gemacht habe, ihm zu helfen, habe er, Wladimirowitsch, sich nicht getraut, das Seil loszulassen. Nur deshalb habe er so lange zugezogen, bis das Opfer keine Gegenwehr mehr leistete. Und in dem Moment sei er der festen Überzeugung gewesen, dass Jungmann nur bewusstlos war. Erst als er merkte, dass der Mann tot war, habe er gemeinsam mit Kolesnikow beschlossen, den Leichnam schnellstmöglich zu beseitigen.
In der ersten Gerichtsverhandlung hatten die Richter dieser Darstellung keinen Glauben geschenkt. In der damaligen Urteilsbegründung verwiesen sie nicht nur auf die oben erwähnte Alibi-Inszenierung, sondern führten zudem aus, dass man mit einem Seil, das nur 1,50 Meter lang war, niemanden an ein 1,80 Meter langes Dreisitzersofa fesseln konnte. Da sie diese Indizien als
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