Der Totenleser
hatte er sich weder ungewöhnlich verhalten noch etwas gesagt, das auf private oder berufliche Probleme hindeuten könnte. Und am späten Samstagnachmittag habe er die gemeinsame Wohnung verlassen, ohne sich von ihr zu verabschieden, und sei nicht mehr zurückgekehrt. Da auch kein Abschiedsbrief gefunden wurde, ordnete der zuständige Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Obduktion des Toten an.
Die ergab, dass tatsächlich Erhängen die Todesursache war. Und aus rechtsmedizinischer Sicht sprach auch alles für einen Suizid, denn abgesehen von der Strangmarke um den Hals fanden wir am Körper des Toten keine Verletzungsspuren, die auf ein Kampfgeschehen oder ein gewaltsames Aufhängen des Mannes hingedeutet hätten. Was bei dem zuständigen Staatsanwalt aber Zweifel aufkommen ließ, war das völlige Fehlen eines Suizidmotivs. Die Vorgeschichte und Lebenssituation des Mannes waren bis dato unauffällig gewesen. Die polizeilichen Ermittlungen hatten diesbezüglich die Angaben seiner Ehefrau bestätigt. Warum sollte der 32-Jäh rige sich so abrupt und plötzlich aus dem Leben verabschiedet haben? Zwar hatten wir bei der Obduktion auch zahlreiche Tumoren im Gewebe beider Lungenflügel gefunden, aber die waren alle nur wenige Millimeter klein, zudem ist ein Tumor zunächst nur eine Schwellung und nicht zwangsläufig ein bösartiges Geschwulst.
Ein definitives Suizidmotiv lieferte unsere Entdeckung jedenfalls erst einmal nicht.
Vor diesem Hintergrund stimmte der zuständige Staatsanwalt unserem Vorschlag zu, chemisch-toxikologische und mikroskopische Untersuchungen durchzuführen, um doch noch Licht ins Dunkel zu bringen.
Mittels toxikologischer Untersuchungen lässt sich oft die Einnahme von Antidepressiva, Schlafmitteln, Neuroleptika (Substanzen, die zur medikamentösen Behandlung von Psychosen eingesetzt werden) oder anderen Psychopharmaka nachweisen. Ein positiver Befund lässt dann den Rückschluss auf eine psychische Erkrankung zu, von der auch die nahen Angehörigen zuweilen nichts mitbekommen haben – vor der Familie oder Freunden werden Probleme dieser Art von den Betroffenen häufig verschwiegen. In solch einem Fall hat die Polizei dann die Chance, den verschreibenden Arzt zu kontaktieren und auf die Weise mehr über die Erkrankung und damit ein mögliches Motiv für den Freitod des Betreffenden herauszufinden. Doch die chemischtoxikologische Analyse von Herzblut, Venenblut, Mageninhalt, Urin und Haaren verlief ergebnislos. Der Mann stand weder zum Zeitpunkt seines Todes unter dem Einfluss irgendwelcher Medikamente oder Drogen, noch hatte er solche Substanzen einige Zeit vor seinem Tode konsumiert.
Fündig wurden wir dann mit Hilfe des Mikroskopes. Neben den bereits mit dem bloßen Auge bei der Ob duktion erkennbaren kleinsten Tumoren in den Lungen zeigten sich solche auch in Gehirn, Herz, Leber und Milz des Mannes. Die Tumoren bestanden aus kleinsten, eben nur unter dem Mikroskop sichtbaren Bindegewebsknötchen mit zahlreichen »Riesenzellen« und einem umgebenden Randsaum von Entzündungszellen. Riesenzellen erscheinen unter dem Mikroskop als ungewöhnlich große Zellen mit mehreren, teilweise Dutzenden Zellkernen. Was wir hier unter dem Mikroskop sahen, waren aber keine bösartigen Tumoren, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das eigentliche Organgewebe zerstören und Metastasen, also Tochtergeschwulste, bilden können. Wir hatten es mit gutartigen ( benigne ) Tumoren zu tun – auch wenn der Begriff »gutartig« ganz und gar nicht zu der schweren Erkrankung des jungen Mannes und dem tragischen Ausgang passte. Das mikroskopische Bild der Bindegewebsknötchen und ihre Verteilung in den verschiedenen Organen ließ nur eine Diagnose zu: Sarkoidose .
Die Sarkoidose (griechisch Sarx = Fleisch; – oid = ähnlich) ist eine Entzündung unbekannter Ursache, die am häufigsten die Lunge, aber, wie in diesem Fall, auch viele andere Organsysteme befallen kann. Die Symptome der Erkrankung können ganz unterschiedlich sein und hängen auch davon ab, welche Organe betroffen sind: Müdigkeit, Fieber, Unwohlsein, Gelenkschmerzen, Husten, (zum Teil unerträgliche) Atemnot, Herzrhythmusstörungen, Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwin delattacken. Unter welchen dieser Beschwerden der junge Mann vor seinem Tode litt, war letztlich auch für uns nicht zu klären. Für den Staatsanwalt war die mikroskopische Diagnose jedoch ein hinreichendes Suizidmotiv. Nachdem unsere Resultate ergeben hatten, dass ein
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