Der Totenleser
Lungenschlagadern des Mädchens festgestellt.
Die Bildung eines Blutgerinnsels wird als Thrombose (griechisch thrombos = geronnene Masse, Klumpen) bezeichnet. Es gibt ganz unterschiedliche Ursachen für die Entstehung von Thrombosen. Die häufigsten Ursachen sind Bettlägerigkeit und Immobilität (stark eingeschränkte Beweglichkeit) bei schweren körperlichen Erkrankungen wie Krebs, nach umfangreichen Operationen oder nach Verkehrsunfällen. Aber auch eine vermehrte Blutgerinnungsneigung, eine Dehydratation (ein zu geringer Wassergehalt des Körpers zum Beispiel durch mangelnde Flüssigkeitsaufnahme oder Flüssigkeitsverlust), die Einnahme bestimmter Medikamente oder eine Schwangerschaft können eine Thrombose verursachen. Dass jedoch ein zwölfjähriges, nicht übergewichtiges und völlig organgesundes Mädchen, das zudem weder Medikamente einnahm noch entsprechende Risikofaktoren aufwies, an einer Lungenembolie starb, war mehr als ungewöhnlich. Eine Lungenembolie kommt als Todesursache bei Kindern und Jugendlichen so gut wie nicht vor. Ich konnte mich an nur einen einzigen weiteren Fall in meiner gesamten beruflichen Laufbahn erinnern, bei dem ein Kind an einer Lungenembolie verstorben war, und damals hatte es kein großes Rätsel gegeben. Der elfjährige Junge war stark übergewichtig gewesen, ausgelöst hatte die Embolie eine sehr komplizierte, viele Stunden dauernde Hüftoperation.
Bei Sarah Ehlers kam wegen der fehlenden Risikofaktoren eigentlich nur eine Ursache in Betracht: eine ihr bisher nicht bekannte Blutgerinnungsstörung. Wir wussten aus der Ermittlungsakte, dass Sarah einen Bruder und eine Schwester hatte. Da Störungen der Blutgerinnung häufig vererbt werden, nahmen wir noch am selben Tag, in Absprache mit dem zuständigen Staats anwalt, telefonischen Kontakt mit den Eltern des Mädchens auf und empfahlen ihnen eine genetische Untersuchung der beiden Geschwisterkinder. Mit Einverständnis der Staatsanwaltschaft wurde einem Human genetischen Labor auch ein kleines Röhrchen mit Blut für genetische Analysen zugesandt, das wir im Rahmen der Obduktion von Sarah asserviert hatten. Drei Wochen später erreichte mich ein Schreiben des Labors. Darin teilte dessen Leiterin mit, dass die molekulargenetische Untersuchung bei Sarah Ehlers die »Faktor-V-Leiden-Mutation« (FVL) festgestellt hatte. Damit hatte sich unser Verdacht bestätigt. Die gute Nachricht: Weder ihr Bruder noch ihre Schwester trugen eine solche Mutation in ihren Genen.
Die holländische Universitätsstadt Leiden im Namen der Erkrankung rührt daher, dass dort 1994 die Genmutation nachgewiesen wurde. Faktor V heißt ein Protein, das eine entscheidende Rolle bei der Blutgerinnung spielt. Entsprechend besteht bei der FVL eine genetisch bedingte erhöhte Blutgerinnungsneigung. Das Risiko, dass es bei den Erkrankten zu Thrombosen und Lungenembolien kommt, ist deutlich erhöht. In Europa sind übrigens sechs bis acht Prozent der Bevölkerung Träger dieser Mutation. Wenn die Erkrankung bekannt ist, kann jedoch mit blutverdünnenden Medikamenten das Thromboserisiko deutlich minimiert werden.
Der Fall Sarah Ehlers war für uns im Institut insofern etwas Besonderes, als wir den Angehörigen auf sehr direkte Weise helfen konnten, nicht nur durch die rechtsmedizinische Diagnose, sondern auch mit unserer Initiative, die anderen Geschwister untersuchen zu lassen. Der Dank der Familie und ihre Erklärung, dass für sie »das Wissen um die Diagnose bei Sarah und die Erkenntnis, dass ihr Bruder und ihre Schwester nicht erkrankt sind, eine große Erleichterung bedeuten«, gehören ohne Frage zu den Erfahrungen, die mich und meine Kollegen in unserer Arbeit immer wieder bestärken.
Auch jenseits solch spektakulärer Fälle kommt es immer wieder vor, dass erst die Mikroskopie schlüssige Erklärungen zur eigentlichen Todesursache oder auch zu den Todesumständen liefert. Wie in dem Fall eines 32-jährigen Mannes, der an einem Sonntagmorgen in einem Waldstück im Berliner Umland von Spaziergängern tot aufgefunden worden war – an einem Baum. Um den Hals des Mannes war ein Hanfseil zweifach (wir Rechtsmediziner sprechen auch von »zweitourig«) gewickelt und rechts vom Nacken verknotet. Das andere Ende des Seils war an einen stabilen Ast gebunden, hoch genug, dass die Fußspitzen des Mannes etwa dreißig Zentimeter über dem Waldboden hingen.
Seiner Ehefrau war der Verstorbene in den letzten Tagen nicht anders als sonst vorgekommen, ihrer Aussage nach
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