Der Totenleser
entsteht, dass die Bakterien auf ihrem Weg durch den toten Körper mit dem roten Blutfarbstoff, dem Hämoglobin, in Berührung kommen und das Hämoglobin durch bakterielle Stoffwechselprozesse abbauen. Dabei entstehen sogenannte Verdoglobine, die eine grünliche Eigenfarbe besitzen.
Auch am Geruch kann man Fäulnis und Verwesung unterscheiden. Im Gegensatz zum eher süßlichen Fäulnisgeruch, der in der Nase sticht und sehr unangenehm ist, geht von Verwesungsprozessen ein zwar muffiger, aber weniger süßlicher und bei weitem nicht so strenger Geruch aus.
Zuklein fürs menschliche Auge
Die zwölfjährige Sarah Ehlers sehnt das Ende der Unterrichtsstunde herbei. Als endlich der Gong zur großen Pause ertönt, rennt sie mit zwei Freundinnen auf den Schulhof. Dort setzen sie sich zu dritt auf eine Bank, erzählen und lachen. Plötzlich bricht das Mädchen ohne Vorwarnung zusammen und regt sich nicht mehr. Die Freundinnen rennen zum Aufsichtslehrer, der seinerseits kurz darauf einen Notarzt verständigt. Der Notarzt versucht Sarah vor den Augen der geschockten Schulkameraden und Lehrer zu reanimieren, doch eine knappe Dreiviertelstunde später muss er sie für tot erklären. Auf dem Totenschein vermerkt er »Todesart ungewiss«, daraufhin wird der Leichnam in das Institut für Rechtsmedizin gebracht.
Unsere Obduktion am nächsten Tag konnte die Todesursache nicht klären. Die inneren Organe zeigten keinerlei »pathologische«, also krankhafte Veränderungen, geschweige denn irgendwelche gravierenden Erkrankungen der Zwölfjährigen. Der einzige auffällige Obduktionsbefund war eine akute Blutstauung der inneren Organe. Eine akute Blutstauung der Organe ist aber ein völlig unspezifischer Befund, den wir bei vielen plötzlichen Todesfällen feststellen können, in denen sich der Tod rasch und ohne längere Agonie (Sterbephase; vom griechischen agonía = Qual, Kampf, Angst) ereignet hat.
Auch zeigten sich am Körper von Sarah Ehlers keine äußeren Verletzungen – abgesehen von den oberflächlichen Hautabschürfungen über dem Brustbein (wo bei der Reanimation die Herz-Druck-Massage angesetzt wird), dem Bluterguss in dem darunter liegenden Weichgewebe, ebenfalls von der Reanimation, und zwei frischen Nadeleinstichen am Hals von den Venenzugängen, die der Notarzt gelegt hatte. Da sich der Kollaps des Mädchens vor den Augen vieler Zeugen auf dem Schulhof abgespielt hatte, schied eine äußere Gewalteinwirkung kurz vor dem Tode aus Sicht der Ermittler ohnehin erst einmal aus.
Nach der Obduktion gab es für den unerwarteten Tod des Mädchens nur zwei mögliche Erklärungen: eine Vergiftung oder eine innere Erkrankung, die sich mit bloßem Auge bei der Obduktion nicht feststellen ließ.
Bei allem Bemühen, meine Arbeit möglichst sachlich und professionell zu erledigen, ohne mich von Emotionen ablenken zu lassen, ist jede Obduktion eines Kindes für mich eine spezielle Herausforderung an die eigene psychische Belastbarkeit – besonders wenn das Kind ohne erkennbare Ursache jäh aus dem Leben gerissen wird. Für Sarah selbst konnte ich nichts mehr tun, aber wenigstens wollten wir für die Eltern und für die Freun de des Mädchens die Todesursache herausfinden. Und das hieß nach der resultatlosen Obduktion: Wir mussten auch dort suchen, wo das menschliche Auge allein überfordert ist.
Dafür wurde als Erstes im Labor die chemisch-toxikologische Untersuchung von Herzblut, Venenblut, Urin, Mageninhalt und Lebergewebe vorgenommen. Resultat: Eine Vergiftung konnte ausgeschlossen werden. Daran hatte zwar im Institut auch niemand wirklich geglaubt, aber in den Köpfen der verschreckten Schulkameraden spukten ja möglicherweise allerlei Schreckensgeschichten umher. In dem Punkt würde man sie nun schon mal beruhigen können.
Die tatsächliche Todesursache konnten wir dann wenige Tage später klären – unter dem Mikroskop. Fast alle kleineren und kleinsten Lungenschlagadern waren von frischen Blutgerinnseln vollständig verschlossen: Das zwölfjährige Mädchen war an einer Lungenembolie gestorben. Die Blutgerinnsel, die bei einer Lungenembolie (synonym werden auch die Begriffe »Lungenarterienembolie« oder »Lungenthrombembolie« verwendet) zum Verschluss der Lungenschlagadern und so zu einem Herzversagen führen, stammen aus den peripheren Venen, meist des Beckens oder der Beine. In unserem Fall hatten wir allerdings bei der Obduktion weder Blutgerinnsel in den Bein- oder Beckenvenen noch mit dem bloßen Auge in den
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