Der Totenleser
stellen, dass sich seine Kenntnisse nicht allein auf Wunden und Todesursachen beschränkten, sondern auch die Inhalte des voluminösen Strafgesetzbuches umfassten, etwa die bei Prozessen nötigen bürokratischen Vorgänge oder die Methoden beim Verhör eines Verdächtigen. Ming hatte ihn in die Gruppe der fortgeschrittenen Schüler aufgenommen, jener, die nach dem Studium die Möglichkeit bekämen, direkt in den Justizapparat einzutreten.
Und in dem Maße, in dem Mings Vertrauen in Ci wuchs, vergrößerte sich der Neid von Grauer Fuchs. Knurrend nahm der grauhaarige Ehrgeizling zur Kenntnis, dass der Meister sie beide zur Novemberprüfung einlud und ihnen mitteilte, dass sie die Prüfung gemeinsam ablegen sollten.
»Die Prüfung wird im Übrigen diesmal nicht in der Akademie stattfinden, sondern in der Provinzpräfektur, genauer gesagt, im Raum der Toten. Ihr befolgt den normalen Ablauf einer Untersuchung und beschäftigt euch mit einem noch ungelösten Fall«, erklärte Ming seinen beiden Musterschülern. »Genau wie im richtigen Leben übernimmt einer von euch die Rolle des Ermittlungsrichters und fertigt den ersten Bericht an. Der andere übernimmt den Part des leitenden Richters, das heißt, er überprüft den Bericht seines Kollegen und erstellt einen zweiten Rapport. Danach müsst ihr euch auf ein gemeinsames Ergebnis einigen. Ihr wetteifert mit zwei anderen Paaren, die ebenso gut vorbereitet sind wie ihr, so dass eure Stärke sich gegen euch kehren und in eure größte Schwäche verwandeln kann. Und ich prophezeie euch schon jetzt, dass eure Gegner, genau wie die Kriminellen, sie ausnutzen werden. Es handelt sich also um eine gemeinsame Arbeit, nicht um einen Wettkampf. Wenn ihr euer Wissen zusammentut, werdet ihr gewinnen. Wenn ihr euch gegeneinander wendet, triumphiert bloß die Dummheit. Habt ihr das verstanden?« Ming sah sie streng an, und weder Ci noch Grauer Fuchs bewegten auch nur einen Muskel. Der Professor holte tief Luft. »Da ist noch etwas: Die Gewinner dieser Prüfung haben gute Aussichten auf den Posten eines Kaiserlichen Beamten, den uns der Hof jedes Jahr gewährt. Ich rede von der festen Stelle, von der alle träumen. Bereitet euch also gut vor und arbeitet hart.«
Ci machte es nichts aus, dass Grauer Fuchs ihm mit seinem Antrag auf die Rolle des Ermittlungsrichters zuvorkam. Was ihn jedoch störte, war die Begründung, dass er, Ci, noch nicht entsprechend ausgebildet sei. Ming stimmte der von Grauer Fuchs vorgeschlagenen Rollenverteilung zu und beschwor beide, ohne Konflikte zusammenzuarbeiten. Ci gabihm sein Wort, während Grauer Fuchs nur ein unverständliches Brummen vernehmen ließ.
Auf dem Weg zum Saal der Stille, dem Ort, an dem man sich zum Selbststudium traf, wurde Ci klar, dass diese Chance zu wichtig war, um ihre Animositäten am Leben zu erhalten. Außerdem hatte er bisher keine unüberwindbaren Probleme mit seinem Zimmergenossen gehabt. Das Einzige waren die Beleidigungen und Verhöhnungen wegen seiner Brandnarben, mit denen Grauer Fuchs ihn von Anfang an bedachte, die er aber mit der Zeit aufgegeben hatte, da sie völlig an Ci abzuprallen schienen.
Davon abgesehen, musste Ci einräumen, dass Grauer Fuchs über rechtliche und literarische Fragen mehr wusste als er selbst und dass er die Fähigkeiten seines Kommilitonen brauchte, wenn sie den Wettbewerb gewinnen wollten. Nach dem Abendessen wollte er die Sache mit ihm besprechen.
Als sie sich von den Tischen erhoben, schien Ci der passende Moment gekommen. Einige Schüler waren schon aufgebrochen, um in die Bibliothek zu gehen und die Unterrichtsvorbereitung fortzusetzen, und so schlug er seinem Zimmergenossen vor, es ihnen gleichzutun.
»Der Raum der Toten … Morgen wird ein großer Tag. Wir könnten noch einmal ein paar Fälle durchgehen und …«
»Du bist seit vier Monaten hier und glaubst wirklich, dass ich mit dir arbeiten werde?«, unterbrach ihn Grauer Fuchs spöttisch. »Wir sind zusammen, weil man es angeordnet hat, aber ich brauche keinen Schleimbeutel an meiner Seite. Mach du deine Arbeit, ich mache meine.« Darauf legte er sich so ruhig schlafen, als stünde er am nächsten Morgen nicht vor der größten Herausforderung seiner Karriere, sondern hätte nur einen Spaziergang geplant.
Ci dagegen blieb noch lange wach, sah in seine Notizen, las seine Aufzeichnungen und rekapitulierte die Themen, auf die Ming besonderen Wert gelegt hatte.
Die Vorbereitung war nicht das Einzige, was ihn beschäftigte. Von dem
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