Der Totenleser
Augenblick an, da er erfuhr, dass die Prüfung im Raum der Toten stattfinden würde, war ihm bewusst, welcher Gefahr er sich aussetzte. Seit Kaos unerwartetem Besuch auf dem Friedhof waren sechs Monate vergangen, und er hatte nichts mehr von ihm gehört. Aber wenn es, wie Xu damals gesagt hatte, ein Kopfgeld für seine Verhaftung gab, kannte man seine Beschreibung vermutlich noch auf der Präfektur. Gleichwohl musste er dieses Risiko auf sich nehmen – die Chance, die sich ihm bot, war einzigartig.
Im Morgengrauen, als die gedruckten Schriftzeichen vor seinen Augen zu tanzen anfingen, bereitete Ci das kleine Instrumentarium vor, das er vom Friedhof mitgebracht und um große Papierbogen, Zeichenkohle, Nadeln mit bereits eingefädelten Seidenfäden und ein Fläschchen Kampfer aus der Küche erweitert hatte. Er legte es zu den Bündeln der anderen Schüler, dann machte er sich an seine Verwandlung.
Vorsichtig schob er zwei Baumwollkügelchen in seine Nasenlöcher, um sie möglichst groß wirken zu lassen. Mit einem Messer rasierte er seinen spärlichen Schnurrbart ab, bevor er sein Haar unter einer von einem Kommilitonen geliehenen Mütze zusammenband. Als er das Ergebnis im glänzenden Bronzespiegel betrachtete, lächelte er zufrieden. Es war keine große Veränderung, aber besser als nichts.
Rasch wusch er sich die Augen im Gemeinschaftsbecken, und lief, die Handschuhe überstreifend, zum vereinbarten Treffpunkt. Sein Kopf summte, als hätte man ihn mit Fußtritten traktiert, und so achtete er kaum auf die Stimmen, dieihn drängten, sich der Abordnung anzuschließen, die bereits die Akademie verließ. Er nahm sein Bündel und rannte die Treppe hinunter.
Bei seinem Anblick schüttelte Ming den Kopf.
»Wo bist du gewesen? Und, bei allen Göttern, was hast du mit deiner Nase gemacht?«
Ci antwortete, er habe ein paar in Kampfer getränkte Baumwolltücher hineingesteckt, um den Geruch zu ertragen. Das sei der Grund für seine Verspätung.
»Du enttäuschst mich«, sagte Ming und wies auf seine aus der Mütze quellenden Haare.
Ci schwieg, verneigte sich nur leicht und stellte sich in die Reihe neben Grauer Fuchs, dessen Äußeres tadellos war.
Wenig später erreichten sie die Präfektur, einen mächtigen, von Mauern umschlossenen Bau, der sich zwischen den Hauptkanälen des Kaiserlichen Platzes erhob und allein die Fläche von vier gewöhnlichen Gebäuden einnahm. Seine langen kahlen Mauern, vor denen kein einziger Bettler lagerte, bildeten einen deutlichen Kontrast zu den Nachbarhäusern, die hinter dem Durcheinander aus kleinen Läden, Obst- und Gemüseständen, beschäftigungslosen Faulenzern und betriebsamen Passanten fast verschwanden. Von hier aus gesehen, wirkte die Präfektur trist und verlassen, beinahe bedrohlich, als hätte ein Hochwasser sämtliche Menschen fortgespült, die sich vor ihren Mauern eingerichtet hatten. Jeder Einwohner von Lin’an kannte und fürchtete diesen Ort. Doch mehr als alle anderen fürchtete ihn Ci.
Tief zog er die Mütze ins Gesicht und hüllte sich fest in seine Jacke. Beim Betreten des Gebäudes hielt er sich dicht hinter Grauer Fuchs, als wäre er sein Schatten, und wagte erst im Raum der Toten wieder, den Kopf zu heben. Der Kampferverfehlte seine Wirkung. Ci atmete den Geruch des Todes – aber wenigstens atmete er.
Der Raum war eine enge Kammer, die nur mit Mühe alle Besucher fasste. An der Seite stand ein Trog mit Wasser bereit, um den Schmutz fortzuspülen, der sich in der schmalen, den Raum durchquerenden Abflussrinne sammelte. Auf einem langgestreckten Tisch in der Mitte war der Umriss eines mit einem Laken zugedeckten Körpers zu sehen. Es stank nach Leiche. Durch eine zweite Tür kam ein dünner Wächter mit Windhundgesicht herein, um ihnen das baldige Eintreffen des Präfekten anzukündigen und eine kurze Einführung zu geben.
»Wir stehen vor einem ungeklärten Fall, der die größtmögliche Diskretion verlangt und über den, aus ebendiesem Grund, niemand alle Einzelheiten erfahren wird.« Nach diesen gewichtigen Worten erläuterte er, dass man zwei Tage zuvor einen Toten im Kanal habe treiben sehen. Die Leiche, ein etwa vierzigjähriger Mann von durchschnittlichem Erscheinungsbild und Körperbau, sei von einem Schleusenwärter entdeckt worden. Der Tote sei bekleidet gewesen und habe einen Schnapskrug in der Hand gehalten. Weder einen Ausweis habe er bei sich getragen, noch Geld oder sonstige Wertsachen, und obwohl seine Kleidung Rückschlüsse auf seinen
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