Der Totenleser
ja, natürlich! Er schrieb alles auf, was er tat, in seiner Freizeit kontrollierte er die Rechnungen, und er ging immer als Letzter zu Bett. Er war stolz darauf, es so weit gebracht zu haben. Das neideten ihm viele. Und deshalb beneideten sie auch mich.«
»Wer?«
»Eigentlich alle. Sanfter Delphin war hübsch und weich wie Seide. Und er hatte Geld, er war stets sehr sparsam gewesen.«
Das überraschte Ci nicht.Viele Eunuchen stiegen bei Hofe auf und konnten sich ein kleines Vermögen zusammensparen. Alles hing von ihrer Arbeit ab und ihrer Fähigkeit zu Lob und Schmeichelei. Doch als Ci das sagte, widersprach der junge Eunuch heftig.
»Er war nicht wie die anderen. Er hatte nur Augen für seine Arbeit, für seine Antiquitäten … und für mich.« Er brach in Tränen aus.
Ci versuchte, den Jungen zu trösten, doch es gelang ihm nicht. Er wollte nicht weiter nachbohren. Wenn nötig, würde er noch einmal wiederkommen. Der Junge wollte gerade gehen, als Ci noch etwas einfiel.
»Eine letzte Sache. Du sagtest, dass Sanfter Delphin den Neid fast aller auf sich zog …«
»So ist es, Herr«, schluchzte der Junge.
»Und wessen Neid nicht, abgesehen von dir?«
Träge Morgenröte sah Ci fest an, als wäre er dankbar für diese Frage. Dann senkte er den Blick.
»Es tut mir leid, das kann ich nicht sagen.«
»Du hast nichts von mir zu befürchten«, wunderte sich Ci.
»Es ist Kan, den ich fürchte.«
* * *
Nachdenklich suchte Ci die Gemächer auf, in denen Sanfter Delphin bis zum Tag seines Verschwindens gelebt hatte. Da er der Assistent des Finanzverwalters gewesen war, befanden sie sich dort, wo der Finanzrat untergebracht war, im darüberliegenden Stockwerk.
Die Tür zu den Gemächern bewachte ein wortkarger Posten, der ihm den Weg freimachte, nachdem er seinen Namen im Register notiert und die Echtheit des Kaiserlichen Siegels überprüft hatte.
Sanfter Delphin war in der Tat ein ordnungsliebender Mensch gewesen. Die Bücher in seinem Arbeitszimmer – allesamt poetische Werke – standen nicht nur in manischer Präzision aufgereiht, sondern sie waren auch alle in Seidenpapier von derselben Farbe eingeschlagen. Kein Gegenstand in diesem Zimmer stand zufällig an seinem Ort: die Anzüge, perfekt gefaltet und in einer blitzsauberen Truhe gestapelt, die Schreibpinsel, die so rein waren, dass ein Neugeborenes bedenkenlos daran hätte lecken können, die nach Größe und Aroma sortierten Räucherstäbchen. Ein einziges unordentliches Element auf dem Schreibtisch fiel Ci ins Auge:Ein Tagebuch, das jemand achtlos liegengelassen hatte, in der Mitte aufgeschlagen. Ci fragte den Wachmann, ob seit dem Verschwinden des Eunuchen jemand zu den Räumen Zutritt gehabt hatte, was dieser nach einem Blick ins Register verneinte.
Ci betrat den nächsten Raum, der durch eine Tür mit dem Arbeitszimmer verbunden war: ein großzügiger Salon, der über und über mit Antiquitäten dekoriert war. Auf einem Bord standen Dutzende kleiner Bronze- und Jadestatuen aus der Tang- und der Qin-Dynastie, ihre Herkunft war auf kleinen Etiketten notiert. Auf den Simsen der Fenster, die auf den Palast der Konkubinen hinausgingen, standen vier leuchtend weiße Vasen aus wertvollstem Porzellan aus Ruzhou. An der gegenüberliegenden Wand hingen Gemälde auf luxuriösem Seidengrund, die Berglandschaften, Gärten, Flüsse und Sonnenuntergänge zeigten. An der vierten Wand hing ein Werk mit kalligraphischen Zeichen, gleich über der Tür, die in den dritten und letzten Raum führte. Er betrachtete die Zeichen genauer. Es handelte sich um ein mit kräftigen Pinselstrichen gemaltes Gedicht, dessen poetische und kunstvolle Verse harmonisch von rechts nach links über die Leinwand flossen. Er besah sich die vielen Siegel, welche die Reihe der Vorbesitzer anzeigten, dabei fiel ihm auch die leicht gebogene Form des Rahmens auf. Seltsam, dachte Ci. Dieses kalligraphische Werk musste unglaublich wertvoll sein – entschieden zu wertvoll für einen Bediensteten am Hof, selbst für einen wohlhabenden Eunuchen wie Sanfter Delphin.
Schließlich betrat Ci den dritten Raum, ein Schlafzimmer, das von einem gazeumspannten, parfümierten Bett dominiert wurde. Die Daunendecke lag exakt auf den vier Ecken des Bettes. Die Wände waren mit bestickten Seidentüchern bespannt. Alles in diesen Räumen hatte seinen Platz.
Alles, bis auf das Tagebuch von Sanfter Delphin.
Er ging zurück in das Arbeitszimmer, um es genauer in Augenschein zu nehmen.
Es handelte sich um ein
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