Der Totenleser
oder ihren Henker gekannt hatten. In jedem Fall war es etwas, worüber Ci nachdenken musste. Schließlich entdeckte er noch ein Detail, das bisher unbemerkt geblieben war: Die Hände des Ältesten, des Toten mit dem entstellten Gesicht, sahen eigenartig aus. Über die Finger und die Handinnenflächen zog sich ein feines und gleichmäßiges Netz aus oberflächlichen Geschwüren, das trotz der fortschreitenden Verwesung weißer war als die Haut am Rest des Körpers. Es schien, als hätte irgendein ätzendes Pulver in der Farbe von Porzellanerdesie angegriffen. Am Daumen der rechten Hand entdeckte er außerdem ein kleines Tattoo, das eine züngelnde Flamme zeigte. Er nahm eine Säge, trennte die Hand ab und bat darum, sie einzubalsamieren und in einer bronzenen Kiste auf sein Zimmer zu bringen. Dann verließ er die Kammer – und atmete tief durch.
Kurz darauf kam Bo mit dem Künstler, der das Porträt von einem der Toten anfertigen sollte. Im Gegensatz zu dem Parfümeur war er bereits über die schwierigen Umstände seines Auftrags informiert worden, doch als er den Lagerraum betrat, entfuhr ihm trotzdem ein Aufschrei des Entsetzens. Nachdem er sich beruhigt hatte, zeigte ihm Ci das Gesicht, das er zeichnen sollte, und die Stellen, die er interpretieren musste, damit es dem Aussehen des Toten zu Lebzeiten möglichst nahekäme. Der Mann nickte. Er packte seine Pinsel aus und begann mit der Arbeit.
Unterdessen studierte Ci die Berichte, die Bo ihm soeben überreicht hatte. Aus ihnen ging hervor, dass der getötete Eunuch mit Namen Sanfter Delphin am Tag der Vollendung seines zehnten Lebensjahres begonnen hatte, im Palast der Konkubinen zu arbeiten. Seither hatte er als Haremswächter fungiert, als freundlicher Begleiter, Musiker und Gedichteleser. Seine ausgeprägte Intelligenz hatte ihm das Vertrauen der Verantwortlichen der Staatskasse eingebracht, die ihm den Posten als Assistent des Finanzverwalters angetragen hatten, als er dreißig geworden war. Ein Amt, das er bis zu seinem Tod mit dreiundvierzig Jahren bekleidet hatte.
Ci verwunderte das nicht. Es war klar, dass Eunuchen die idealen Kandidaten abgaben, um den Besitz des Palastes zu verwalten, schließlich hatten sie keine Nachkommen und waren darum auch nicht versucht, Mittel für ihre eigenen Zwecke abzuzweigen.
Der Bericht besagte, dass Sanfter Delphin eine Woche vor seinem Verschwinden um Erlaubnis gebeten hatte, den Palast zu verlassen, weil er eine Nachricht seines Vaters bekommen hatte, der plötzlich krank geworden war. Die Erlaubnis war ihm erteilt worden, und darum war sein Verschwinden niemandem verdächtig erschienen. Seine Laster und Tugenden betreffend, erwähnten die Unterlagen nur seine große Liebe zu Antiquitäten, von denen er eine kleine Sammlung besaß, die er in seinen Privatgemächern verwahrte. Zuletzt waren die täglichen Aktivitäten aufgeführt und die Menschen, die er traf, hauptsächlich Eunuchen, die unter denselben Umständen lebten wie er.
Ci verstaute den Bericht zusammen mit dem Plan des Palastes, auf dem die Räumlichkeiten verzeichnet waren, die er bewohnen würde. Er sah, dass sie an den Palast der Konkubinen grenzten, den er, wie er sich erinnerte, nicht betreten durfte. Er nahm seine Utensilien und warf einen Blick auf die Skizze, die der Porträtmaler anfertigte. Der Mann erledigte seine Arbeit hervorragend, wie Ci erleichtert und zufrieden feststellte. Er ließ ihn weiterarbeiten, bat Bo, einen Kunsttischler zu beauftragen, eine bestimmte Art von Lanze anzufertigen, und ging.
Den restlichen Nachmittag verbrachte Ci damit, die Bereiche des Palastes zu erkunden, die er betreten durfte.
Zuerst inspizierte er das Außengebäude, ein quadratisches Bauwerk von etwa sechsunddreißig Li Durchmesser, das von zinnenbewehrten Mauern umgeben war, deren Höhe Ci auf mehr als sechs Manneslängen schätzte. In den Ecken flankierten vier Wachtürme die vier zeremoniellen Pforten, die, orientiert nach den vier Himmelsrichtungen, Zutritt zum Palast gewährten. Pforten, die Ci wegen ihrer Dicke für uneinnehmbar hielt.
Danach ging er durch den dichtbewachsenen Gürtel aus kleinen Gärten, die das Gebäude umgaben. Er staunte angesichts der schillernden Flut aus Grün, die in ihrer Intensität beinahe in den Augen schmerzte. Das frische und durchdringende Aroma der Kirschbäume, der Pfirsichbäume und des Jasmin befreite seine Nase von dem fauligen Gestank, der sich in seiner Lunge festgesetzt hatte. Er schloss die Augen und atmete
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