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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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tief ein. Er spürte, wie das Leben in seine Glieder zurückkehrte.
    Er ließ sich Zeit, die Büsche von Pfingstrosen zu betrachten, die sich mit Orchideen und Kamelien abwechselten, und er bewunderte das Wäldchen aus Pinien und Bambus, in dem es Bäche, Teiche, Brücken und Pavillons gab. Dieser Ort vereinte alles, was ein Mensch sich wünschen konnte.
    Schließlich setzte er sich auf einen Stein und schlug das Heft auf, das Bo ihm zusammen mit dem Plan des Palastes überreicht hatte. Um ihn herum tschilpten die Stieglitze. Er las sich den Abschnitt durch, der die Pflichten beschrieb, die den Angestellten des Palastes oblagen, die nach Beendigung ihrer Arbeit im Kaiserlichen Palast verblieben. In der Stunde des Shen , der Zeit zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, mussten diese Angestellten vor dem zuständigen Beamten erscheinen, der ihre Identität überprüfte. Derselbe Beamte war verantwortlich dafür, dass sie den Palast durch die Pforte wieder verließen, durch die sie ihn betreten hatten. Wenn einer der Arbeiter diese Bestimmungen nicht befolgte und absichtlich länger im Palast blieb, wurde er mit einer Gefängnisstrafe belegt, die einen Jahreskreis dauerte, dann folgte der Tod durch den Strang.
    Ci verstand den Grund dieser Warnung nicht. Das Siegel, das man ihm gegeben hatte, erlaubte ihm nicht nur, in den gekennzeichneten Bereichen des Palastes herumzulaufen,sondern auch, in der Kammer zu übernachten, die Kan ihm zugewiesen hatte. Vielleicht war seine Unterkunft nur vorübergehend, oder vielleicht sollte er besser auf der Hut sein.
    Ihn überlief ein Schauer.
    Der Normenkatalog besagte außerdem, dass kein externer Arbeiter nach Ende seiner Arbeitsschicht im Palast verbleiben durfte. Wurde ein Verstoß bekannt, begaben sich die Arbeitsinspektoren, die verantwortlichen Beamten, Soldaten und Torwachen sofort auf die Suche nach ihm, und auch der Kaiser wurde informiert.Was das palasteigene Dienstpersonal betraf, hatten diejenigen, die nicht pünktlich bereitstanden, um ihre Pflichten zu erfüllen, oder aber die Arbeit vorzeitig niederlegten, eine Strafe von vierzig Hieben pro Tag der Abwesenheit zu befürchten. Zuletzt wurde aufgeführt, dass, wenn der festgenommene Schuldige ein Beamter oder ein Offizier war, sich die Strafe umgehend um eine Stufe verschlimmerte, ohne jedoch sechzig Schläge und ein Jahr Verbannung zu überschreiten.
    Ci klappte das Heft zu. Er wollte glauben, dass nichts von dem, was dort geschrieben stand, irgendeine Wichtigkeit für ihn hatte. Plötzlich erschien ihm die ganze Pracht der Gärten als ein zwar außergewöhnlich schönes, aber ebenso grausames Gefängnis.
    Er stand auf und machte sich auf den Weg zu den südlichen Gebäuden der Palastanlage, in denen die Arbeitszimmer der exekutiven Instanzen der Regierung untergebracht waren. Er hatte sich bemüht, sie auswendig zu lernen, und er versuchte, sich an ihre Lage zu erinnern. Direkt am Eingang befand sich der Li Bu , der Personalrat, der sich um Dinge wie die Gradation und Einteilung der Beamten kümmerte. Dahinter lag der Renten- und Finanzrat, genannt Hu Bu , der die Steuern verwaltete. Und dahinter der Rat der Riten, dessenAufgabe es war, die Zeremonien, Auswahlverfahren und das Protokoll zu überwachen. Daneben befand sich der Heeresrat oder Bing Bu , der alle militärischen Angelegenheiten regelte. Der Strafrat, der von Kan geleitet wurde, befasste sich mit allen rechtlichen Fragen und war im oberen Stockwerk angesiedelt, zusammen mit dem Arbeitsrat Gong Bu , der für öffentliche Bauprojekte wie Straßen, Kanäle und Häfen zuständig war.
    Als Ci vor dem Haupteingang stand, beschloss er, seine Ortskenntnis zu testen. Er zeigte der Wache sein Siegel, die ihm den Weg freigab, nachdem sie seinen Namen und die Uhrzeit notiert hatte. Ci durchquerte die riesige Empfangshalle und betrat den beeindruckenden Siheyuan , den von Säulengängen umschlossenen Hof, von dem aus man die herrschaftlichen Gebäude erreichte: den Palast der Konkubinen und den Palast des Kaisers.
    Vom Tor aus betrachtete Ci die beiden würdevollen Paläste, hinter deren Fassade laut Plan an die zweihundert Kammern und Säle verborgen lagen. In ihnen wohnten außer dem Kaiser seine Ehefrauen und Konkubinen, die Eunuchen und ein allzeit einsatzbereites Kommando der Kaiserlichen Wache.
    Ci vertiefte sich wieder in den Plan. Es schien, als befänden sich im östlichen Flügel des Palastes des Kaisers die Vorratsräume und die Küchen und im

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