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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Buch aus feinem, mit Lotosblumen geschmücktem Papier. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine Seite herausgerissen worden war, vertiefte er sich ohne Eile in die Lektüre, auf der Suche nach irgendeinem Indiz, dass ihm nützlich sein könnte. Merkwürdigerweise erwähnte Sanfter Delphin seine beruflichen Aktivitäten in dem Tagebuch mit keinem Wort, sondern erzählte ausschließlich von seinem Privatleben. Der Eunuch beschrieb seine Gefühle für Träge Morgenröte, in den er offenbar ernsthaft verliebt gewesen war. Er schrieb feinsinnig und mit großer Zuneigung von ihm, und mit ähnlicher Leidenschaft erwähnte er auf beinahe jeder Seite seine Eltern.
    Ci überlegte. Aus der Lektüre des Tagebuchs ging hervor, dass der Eunuch ein sensibler und ehrlicher Mensch gewesen war, trotz seines stürmischen Liebeslebens. Und man konnte daraus folgern, dass er auf die eine oder andere Weise von seinem Henker hintergangen worden war.
    * * *
    Früh am nächsten Morgen betrat Ci das Archiv. Grauer Fuchs verbrachte die Nächte außerhalb des Palastes, und wohl wissend, dass sein ehemaliger Kommilitone kein Frühaufsteher war, nutzte Ci die Ruhe des frühen Morgens, um zu überprüfen, woran Sanfter Delphin vor seinem Tod gearbeitet hatte.
    Wie er in den Unterlagen lesen konnte, hatte der Eunuch sich im letzten Jahr um die Buchhaltung gekümmert, die den Salzhandel betraf, ein Monopol, dessen Kontrolle wie auchder Handel mit Tee, Räucherstäbchen und Alkohol in den Händen des Staates lag. Ci war nicht vertraut mit der kaufmännischen Buchführung, doch durch einen einfachen Vergleich mit den Zahlen vergangener Jahre bemerkte er,dass ein konstanter und deutlicher Rückgang der Gewinne zu verzeichnen war. Die schlechteren Bilanzen ließen sich vielleicht auf Missernten zurückführen, oder aber auf eine unrechtmäßige Bereicherung eines Einzelnen, die auf ihre Weise die außerordentlich wertvolle Antiquitätensammlung erklären würde, die Sanfter Delphin zusammengetragen hatte.
    Um seine Vermutung zu überprüfen, machte er sich auf zum Finanzrat, wo man ihm sagte, dass die Gewinne durch das Vordringen der Barbaren im Norden gesunken waren. Seither hätten die Handelsbeziehungen stark gelitten, besonders in den letzten Jahren, seit die Jin trotz der Abkommen und der Zölle damit drohten, ihre Invasion fortzusetzen.
    Ci dankte dem Beamten für die Auskunft und machte sich auf den Weg in die Leichenkammer, wo er mit Bo verabredet war.
    Als er in die Kellerverliese hinabstieg, befiel ihn sofort Übelkeit, der Gestank der Verwesung drang inzwischen bis zu den Treppen. Hastig versorgte er sich mit Kampferfasern. In diesem Moment tauchte Bo neben ihm auf.
    »Ich habe mich verspätet, aber hier hast du sie.« Er reichte Ci die Lanze, um die er gebeten hatte.
    Ci betrachtete die Stange eingehend, wog sie in der Hand, maß den Durchmesser und die Länge. Dann nickte er zufrieden. Es war genau das, was er brauchte. Er legte sie zur Seite und begann im Vorraum der Leichenkammer mit den Vorbereitungen für seine letzte Untersuchung. Zunächst füllte er in einen Topf aus Terrakotta eine große Menge Weißdistelblätter und Schoten des Lederhülsenbaumes. Er zerdrücktesie und zündete sie an, damit der Rauch den Gestank vertrieb. Dann goss er Essig in eine Schüssel, inhalierte einige Tropfen Hanfsamenöl und biss auf ein Stück frischen Ingwer. Er holte noch einmal tief Luft und betrat den Raum, in dem die Toten aufgebahrt lagen.
    Obwohl er die Leichen auch am Tag zuvor gewaschen hatte, hatten sich die Würmer erneut vermehrt und bevölkerten die Körper. Schnell löschte Ci die Glut in dem Terrakottatopf mit Essig ab, damit der Rauch sich verbreitete. Was von dem Essig übrigblieb, vermischte er in einer Schale mit fermentierter Jauche, bis ein zähflüssiger Brei entstand, den er mit Wasser verdünnte. Dann schmierte er ihn auf einen Holzstab und wischte damit die Larven und die Würmer von den Leichnamen. Er beendete die Waschung, indem er mehrere Eimer Wasser über den Leichen ausgoss. Ihn überfiel Ekel, als sich unter seinen Füßen eine fettige Pfütze aus Blut, Insekten und Fäulnis bildete, doch er biss die Zähne zusammen und begann mit der Untersuchung.
    Bei dem Eunuchen und dem verunstalteten Leichnam des älteren Mannes, dem er die Hand amputiert hatte, entdeckte er nichts, was ihn zu neuen Erkenntnissen geführt hätte. Bei beiden war die Zersetzung fortgeschritten und hatte die Haut schwarz gefärbt, an vielen

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