Der Totenleser
gegenüberliegenden Flügel die Scheunen und Stallungen. Er vermutete, dass darunter die Kerker lagen, auch wenn er das wegen der labyrinthisch angelegten Gänge des Untergeschosses nicht mit Sicherheit sagen konnte. Zuletzt stellte er fest, dass die beiden Sommerpaläste – Morgenfrische und Ewige Kühle – außerhalb seines Sichtfeldes lagen, im nördlichen Flügel. Er zog den Bericht hervor, den Bo ihm überlassen hatte, um ihn mit seinen eigenen Notizen zu vergleichen.
Er seufzte. Bis zu diesem Moment gab es nur eine einzige Gewissheit: dass er es mit einem extrem gefährlichen und außergewöhnlich intelligenten Mörder zu tun hatte, dessen Geschick, seine Verbrechen zu vertuschen, ebenso groß war wie seine Grausamkeit. Mehr hatte er nicht. Er war leicht im Vorteil, weil er entdeckt hatte, dass es sich bei der toten Frau in Wirklichkeit um einen Eunuchen handelte, ein Detail, das dem Mörder hoffentlich unbekannt war, doch es standen ihm eine ganze Reihe von Schwierigkeiten im Weg. Einerseits die vollkommene Unkenntnis des Motivs, das den Mörder geleitet hatte, auf der anderen Seite die offene Feindschaft Kans.Was er jedoch für das größte Problem hielt, war, mit einem hinterhältigen Untersuchungspartner wie Grauer Fuchs zusammenarbeiten zu müssen.
Er suchte seine Kammer auf, um in Ruhe nachdenken zu können. Dort fand er ein schmales Bett, einen Schreibtisch und die Kiste mit der einbalsamierten Hand vor – alles, was er für den Augenblick brauchte. Er freute sich über den Ausblick auf den Innenhof, den das einzige Fenster freigab. Dann setzte er sich, um seine Ideen zu ordnen, und begann mit der Arbeit. Unglücklicherweise lagen seine größten Hoffnungen in den Fortschritten des Parfümeurs und dem Verteilen des Porträts, das er anfertigen ließ. In beiden Fällen waren Ergebnisse nicht garantiert, und er konnte nichts tun, um den Erfolg zu beeinflussen. Alles lag nun in den Händen des Schicksals, und das war ihm gar nicht recht.
Er öffnete die Kiste und nahm behutsam die Hand heraus, die er dem Leichnam amputiert hatte, um sie bei Tageslicht zu betrachten. Es schien, als wären die Fingerkuppen von Dutzenden Nadeln durchbohrt worden, bis sie aussahen wie Fu hai shi , der runzelige Bimsstein von Guandong. Unter den Fingernägeln entdeckte er kleine schwarze Splitter. Alser sie herausklaubte, um ihre Konsistenz zu prüfen, zerfielen sie zu Staub. Es handelte sich um Kohlereste. Vorsichtig roch er an der Hand, sie verströmte immer noch den Hauch eines Duftes. Dann legte er das Körperteil vor sich auf den Tisch und sinnierte über die eigenartigen Krater, die der Mörder ausgeschnitten hatte. Warum hatte er sie mit Parfüm bestrichen? Warum hatte er derart brutal an den Leichen herumgeschnitten? Hatte er etwas gesucht, oder hatte er einem Ritus gehorcht, wie Ming und der Richter vermuteten?
Ci erhob sich entschlossen.Wenn er vorankommen wollte, musste er die Freunde von Sanfter Delphin befragen.
* * *
Ein Beamter informierte Ci, dass er Träge Morgenröte in der Kaiserlichen Bibliothek antreffen würde.
Der beste Freund von Sanfter Delphin entpuppte sich als junger Eunuch mit kindlichen Zügen, der nicht älter sein mochte als siebzehn. Obwohl seine Augen rot waren vom Weinen, war seine Stimme beherrscht und seine Antworten ruhig und erwachsen. Doch als Ci ihn nach Sanfter Delphin fragte, änderte sich sein Tonfall.
»Ich habe bereits dem Strafrat gesagt, dass Sanfter Delphin sehr verschwiegen war. Es stimmt, dass wir viel Zeit zusammen verbrachten, aber wir haben wenig geredet«, antwortete er.
Ci fragte ihn nicht, womit er seine Zeit verbrachte, stattdessen erkundigte er sich über die Familie von Sanfter Delphin.
»Er hat fast nie von ihnen geredet«, sagte der Junge, erleichtert, dass er offenbar nicht für sein Verschwinden verantwortlich gemacht wurde. »Sein Vater war ein Fischer, so wie vieleandere Väter von uns hier, aber ihm gefiel das nicht, und er phantasierte gerne darüber.«
»Er phantasierte?«
»Er übertrieb, malte sich Dinge aus …«, erklärte der Junge. »Er sprach respektvoll und bewundernd über seine Familie, aber nicht wie ein frommer Sohn, sondern er liebte es, damit anzugeben. Als stammte er aus einer reichen und mächtigen Familie. Armer Sanfter Delphin. Er log nicht aus Bosheit. Er verabscheute nur die Erbärmlichkeit seiner Kindheit.«
»Ich verstehe.« Ci sah von seinen Notizen auf. »Wie es scheint, war er sehr gewissenhaft bei der Arbeit.«
»Oh
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