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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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reichte, und zerknüllte sie, ohne einen Blick darauf zu werfen.
    »Wohin des Weges?«, erkündigte er sich höhnisch.
    »Zur Bronzewerkstatt.« Ci spürte, wie sein Herz ihm biszum Hals klopfte. »Es gibt eine Spur, der ich nachgehen muss. Bo begleitet mich.«
    Kan zog eine Augenbraue hoch. »Was für eine Spur?«
    »Eine Spur …«, stammelte Ci.
    »Ich vermutete schon, du könntest so einfältig sein, an Flucht zu denken.« Er machte eine Pause und lächelte. »Aber es wäre sehr ungezogen von dir, wenn du es tätest, ohne dich von deinem Meister Ming zu verabschieden. Er sitzt gefangen im Kerker. Und da bleibt er, bis du zustimmst, zu Feng in den Pavillon zu ziehen.«
    Blinde Wut flammte in Ci auf, als er den halbtot geschlagenen Mann auf der kaputten Pritsche liegen sah. Ming begrüßte ihn mit unbeweglicher Miene und leerem Blick.
    »Diese Barbaren!«, platzte es aus Ci heraus.
    Ihm blieb keine Wahl – er musste in Kans Pläne einwilligen. Immerhin sagte man ihm zu, Mings Wunden zu versorgen und den Professor an einen anderen Ort zu verlegen.
    * * *
    Mehrere Bedienstete halfen ihm, seine wenigen Besitztümer in den Seerosenpavillon zu schaffen. Als sie sich zurückzogen, sah Ci sich traurig in seiner neuen Bleibe um. Es war ein großzügiger Raum, aus dessen Fenstern man in den Garten voller Zitronenbäume blickte. Der Duft der Bäume durchdrang jeden Winkel und verwandelte das Haus in ein Paradies der Frische. Er legte seine Sachen ab und ging hinaus zu Richter Feng. Als er neben ihn trat, verbeugte sich Ci zur Begrüßung, doch Feng nahm ihn in den Arm.
    »Junge! Ich freue mich so, dass du bei uns bist!«
    Bei einem wohlschmeckenden schwarzen Tee fragte Fengihn nach den Umständen, die zum Tod seines Vaters geführt hatten. Ci erzählte ihm vom Verlust seiner Familie und wie es ihm in der Stadt ergangen war, von seiner Begegnung mit dem Wahrsager, dem tragischen Tod seiner Schwester, seiner Aufnahme in die Ming-Akademie und seiner Ankunft im Palast, lediglich die Details über seine Flucht und das Motiv seiner Anwesenheit in diesem Zimmer sparte er aus.
    »Warum hast du nicht versucht, mich zu finden?«, fragte Feng, als Ci geendet hatte.
    »Ich habe es versucht.« Ci überlegte, ob er ihm die wahren Motive enthüllen sollte, die ihn daran gehindert hatten, die Suche nach ihm beharrlich zu verfolgen. Er entschied sich dagegen. »Herr, ich sollte nicht hier sein. Ich verdiene es nicht, die Gesellschaft …«
    Feng legte ihm einen Finger auf den Mund. Ci verstummte, Reue schnürte ihm die Kehle zu. Er schwieg, bis Feng ihn nach den Prüfungen fragte.
    »Du wolltest doch teilnehmen, nicht wahr?«
    Ci nickte. Er gestand Feng, dass er sich bemüht hatte, das Eignungszertifikat zu erhalten, dass es ihm jedoch wegen des unehrenhaften Verhaltens seines Vaters verwehrt geblieben war.
    »Du hast es also erfahren«, sagte Feng bedauernd. »Ich wollte es dir nicht sagen. Als du mich im Dorf fragtest, warum dein Vater sich plötzlich weigerte, nach Lin’an zurückzukehren, habe ich es nicht übers Herz gebracht. Damals hattest du schon genug mit der Festnahme deines Bruders zu tun. Aber vielleicht kann ich dir jetzt helfen. Ich kenne Leute, und vielleicht ist es möglich, das Zertifikat …«
    »Herr, ich möchte nicht, dass Ihr etwas für mich tut, das Euch schaden könnte.«
    »Du weißt, wie sehr ich dich immer geschätzt habe, Ci.Und ich wünsche mir, dass du dich unter meinem Dach zu Hause fühlst.« Er hielt inne, dann erzählte er von seiner Frau, Blaue Iris. »Wir haben uns kennengelernt, kurz nachdem ihr fort wart. Es war nicht einfach für uns. Überall, wo wir hingingen, verfolgten uns böse Zungen. Doch bei ihr habe ich mein Glück gefunden.«
    Verstohlen sah Ci zu der schönen Nüshi hinüber. Sie saß im Garten, die Augen in die Weite gerichtet. Das Licht umspielte ihr seidiges schwarzes Haar, das sie zu einem Dutt geschlungen hatte, der ihren geraden, langen Hals entblößte. Schnell wandte er den Blick ab, als hätte man ihn dabei erwischt, etwas zu stehlen. Er bat Feng um die Erlaubnis, sich zurückzuziehen. Und er war schon ihm Gehen, als der Richter ihn zurückhielt.
    »Ci.«
    »Ja, Herr?«
    »Danke, dass du hier bleibst. Das macht mich sehr glücklich.«
    Ci ließ sich auf das Federbett fallen und betrachtete den Reichtum, der ihn umgab. Unter anderen Bedingungen hätte er die Situation genossen, doch in diesem Moment fühlte er sich wie ein wilder, treuloser Hund, der den Herrn, der ihn liebevoll

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