Der Totenleser
den er um den Hals trug. »Nimm ihn. Er wird dir die Tür zu meiner Bibliothek öffnen. Das letzte Regalbrett hat einen doppelten Boden.« Ein Zittern durchlief ihn. »Da bewahre ich die Geheimnisse meines Lebens auf, kleine Dinge, die mich begleitet haben: einige Bücher, Zeichnungen, Gedichte, Andenken … An sich wertlose Objekte, die mir dennoch viel bedeuten. Sollte mir etwas geschehen, will ich nicht, dass jemand sie findet. Frag nach Sui. Er wird dich hineinlassen.«
»Aber Herr …«
»Versprich mir, dass du die Sachen holen und neben mir begraben wirst.«
»Nichts dergleichen wird notwendig sein.«
»Versprich es«, drängte er.
Ci biss sich auf die Lippen. Er versprach es, und in Gedanken fügte er ein weiteres Versprechen hinzu: Sollte Meister Ming sterben, würde es nicht lange dauern, bis Kan ihm folgte.Nachdem er sich von Ming verabschiedet hatte, steuerte Ci wutentbrannt das Arbeitszimmer Kans an, zu dem er sich dank seines neuen Passierscheins Zutritt verschaffte. Er wartete nicht, bis der Wachmann ihn angemeldet hatte, sondern stieß einfach die Tür auf und platzte hinein.
»Entweder holt Ihr Ming auf der Stelle aus dieser Kloake heraus, oder ich enthülle Blaue Iris Eure Verdächtigungen!«
Kan lachte verächtlich.
»Wenn Ihr ihn da nicht herausholt, erzähle ich ihr alles. Wenn er sich nicht erholt, erzähle ich es ihr auch. Und wenn er stirbt …«
»Wenn er stirbt, dann deshalb, weil du deine Arbeit nicht gemacht hast, und dann werdet ihr beide sterben!«, fuhr Kan ihm ins Wort. »Und lass dir eines gesagt sein, Junge: Bisher mögen deine Untersuchungen den Kaiser zufriedengestellt haben, doch mich überzeugen sie nicht. Und meine Geduld ist nicht unendlich. Ich würde dir raten, diese Schwuchtel ganz schnell zu vergessen, denn sonst könnte dir dasselbe Los zuteilwerden wie ihm. Mach dich, verdammt noch mal, wieder an die Arbeit, wenn du nicht so enden willst wie er.«
Ci rührte sich nicht.
»Hast du mich nicht verstanden?«, brüllte Kan.
»Erst, wenn Ihr Ming verlegt habt«, sagte Ci ruhig.
Blitzschnell zückte der Einäugige einen Dolch. Ci spürte den Druck des kalten Metalls an seiner Kehle, doch er hatte sich entschieden.
»Erst, wenn Ihr Ming verlegt habt«, keuchte er.
Er spürte, wie die Waffe in Kans Hand zitterte. Schließlich zog er sie zurück.
»Wache!«, brüllte er. Im selben Augenblick betrat der Wachmann das Zimmer. »Sorgt dafür, dass die Wunden des Gefangenen Ming versorgt werden, und schafft ihn in diesesGebäude. Und was dich betrifft …« Er kam Ci bedrohlich nahe, so nahe, dass Ci seinen Atem spürte. »Ich gebe dir drei Tage. Wenn du in drei Tagen den Mörder nicht gefunden hast, wird ein anderer dich finden.«
* * *
Als er aus Kans Arbeitszimmer trat, atmete Ci tief durch. Die Frist, die der Einäugige ihm gesetzt hatte, stimmte in etwa mit dem Datum der Rückkehr von Grauer Fuchs überein. Er ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel in seine Handflächen gruben. Er musste es schaffen, er musste den Mörder finden – und wenn es bedeutete, den verehrten Feng zu hintergehen.
Um sich zu vergewissern, dass Kans Befehle ausgeführt wurden, lief er zu den Kerkern hinüber. Dort kümmerte sich ein Arzt in Begleitung von vier Dienern um Ming, sie waren gerade dabei, den Professor auf eine Trage zu heben. Vorerst beruhigt, beschloss Ci, mit Bo die herbeigeschafften Trümmer aus der Werkstatt des Bronzefabrikanten in Augenschein zu nehmen.
Der Lagerraum war annähernd appetitlich wie der Schweinestall, in dem Ming gelegen hatte. Er war lediglich größer, und damit noch dreckiger. Mit dem Fuß stieß er ein Stück verkohltes Holz und einige Eisenhaken zur Seite. Diejenigen, die die Gegenstände transportiert hatten, hatten nicht nur vergessen, ihren Fundort zu vermerken, sondern hatten sie noch dazu einfach auf einen Haufen in die Ecke gekippt. Bo schnaubte ärgerlich, er werde seine Leute zur Rechenschaft ziehen, und half Ci, das Material zu sortieren. Sie räumten die Gegenstände aus Metall auf die eine, die aus Holz auf die andere Seite. Und während der Kaiserliche Berater die Hölzerklassifizierte, nummerierte Ci die Gussformen und ordnete die zersprungenen Keramikfragmente einander zu.
Sie waren mitten in ihre Arbeit versunken, als Ci plötzlich eine Scherbe fand, die ihn stutzig machte.
»Vergesst die Metalle. Schaut Euch diese Scherbe hier an!« Er streckte sie Bo hin. »Sie ist anders als alle anderen.«
Bo betrachtete die Scherbe aus
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