Der Totenleser
bei sich aufnimmt, in die Hand beißt.
Doch was konnte er tun? Wenn er sich Kan widersetzte, würde der fürchterliche Einäugige Ming mit derselben Kälte abschlachten wie jemand, der eine Nacktschnecke zertrampelt. Fügte er sich dem dicken Strafrat, würde er Feng verraten. Er quälte sich, bis die Dämmerung hereinbrach, ohne einen Ausweg zu finden.
Er dachte an all die Morde: an den Eunuchen Sanfter Delphin, einen eleganten und sensiblen Mann, der Männer undAntiquitäten liebte. An den älteren Toten mit den verätzten Händen, der offenbar mit dem Salzhandel zu tun gehabt hatte. An den dritten Toten, von dem er das Porträt hatte anfertigen lassen, dessen Gesicht von kleinen Narben übersät war. Und an den ermordeten Bronzefabrikanten, dessen Werkstatt zufällig in derselben Nacht abgebrannt war, in der er geköpft wurde …
Wo war das verbindende Element? Und wie könnte Blaue Iris darin verwickelt sein? Es ergab keinen Sinn. Denn selbst wenn die schöne Frau des Richters dem Kaiser schaden wollte, warum würde sie vier Menschen umbringen, zwischen denen anscheinend überhaupt kein Zusammenhang bestand?
Oder andersherum: In welcher Weise betrafen diese schrecklichen Tode den Kaiser? Die Morde waren alle nach derselben Methode verübt worden, doch war es letztlich nicht sicher, dass hinter allen auch dieselbe Person steckte.
Er dachte nach, bis die Abenddämmerung in Dunkelheit überging, und er fuhr damit während des Abendessens fort, indem er Magenschmerzen vortäuschte.
Erschöpft schloss er die Augen, und sogleich sah er Blaue Iris vor sich. Er konnte nichts dagegen tun, es geschah ganz von selbst. Er schämte sich, doch je vehementer er versuchte, seine Gedanken zu verbannen, desto weniger gelang es ihm.
Am nächsten Morgen stand er vor seinen Gastgebern auf. Er wollte sich vergewissern, dass es Ming gutging. Er dankte dem mongolischen Diener für das Frühstück, und nachdem er angekündigt hatte, dass er zum Mittagessen zurück sei, machte er sich auf zu den Kerkern.
Er fand Ming in einer feuchten, völlig verdreckten Zelle, wo sich gammelige Essensreste und Exkremente türmten und Ratten herumwuselten, die aus den Kanälen heraufgestiegenwaren. Der Meister lag ausgestreckt da und klagte über die Wunden an seinen Beinen. Schreiend verlangte Ci eine Erklärung von der Wache, doch der zeigte so viel Mitgefühl wie ein Schlächter bei der Arbeit. Ci verfluchte ihn und entriss ihm einen Krug mit Wasser, dann kniete er sich neben Ming und versuchte, ihm Erleichterung zu verschaffen. Er zog sein Hemd aus und entfernte vorsichtig das trockene Blut von den Lippen des Meisters. Die Wunden an seinen Beinen sahen schlimm aus. Möglich, dass diese Verletzungen an einem jungen Körper schnell heilen würden, doch bei Ming … Ci reinigte sie behutsam. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er versuchte ihn zu beruhigen, indem er ihm versicherte, dass er ihn aus diesem Loch herausholen würde. Ming lächelte matt.
»Gib dir keine Mühe. Männer, die Männer lieben, haben schon immer Kans Missfallen erregt.«
Ci verfluchte den Strafrat. Schließlich gestand er seinem Meister, welchen Handel Kan mit ihm trieb und wie kritisch seine eigene Situation war. Er versprach, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um ihn zu retten. Um diese Morde aufzuklären.
»Ich tappe im Dunkeln. Was nützt es, Spuren zu verfolgen, wenn ich das Motiv nicht kenne, das den Mörder vorantreibt?«, klagte Ci.
»Hast du an Rache gedacht?«
»Das ist es, was Kan vermutet. Aber bei allen Göttern, er verdächtigt eine Blinde!« Er erzählte ihm von der Nüshi .
»Und könnte er nicht recht haben?«
»Natürlich könnte er das. Diese Frau hat so viel Geld, dass sie eine ganze Armee unter Vertrag nehmen könnte. Aber warum sollte sie das tun? Wenn sie sich rächen will, warum sollte sie dafür diese armen Unglücklichen umbringen?«
»Und es gibt keine anderen Verdächtigen? Irgendeinen Feind, der die Toten verbindet?«
»Ich weiß schon nicht mehr, was ich glauben soll. Der Eunuch hatte keine Feinde. Seine einzige Obsession war die Arbeit.«
»Und der Bronzefabrikant, von dem du gesprochen hast?«
»Man hat seine Werkstatt niedergebrannt. Das untersuche ich gerade.«
Ming versuchte sich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz zwang ihn wieder auf die Pritsche zurück.
»Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann, Ci. In meinem Zustand … Aber vielleicht kannst du etwas für mich tun.« Er zog einen Schlüssel hervor,
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