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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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vorsichtiger sein.
    »Die Jin pflegen einige kulinarische Bräuche, die sich von unseren unterscheiden, Gewohnheiten, die bestimmte Krankheiten hervorrufen und andere lindern. Das ist Gegenstand meiner Untersuchung und der Grund, aus dem ich hier bin. Doch sagt mir, welchem Umstand schulde ich die Ehre dieser Einladung? Neulich schient Ihr nicht gerade dazu aufgelegt, über die Jin zu sprechen.«
    »Man kann seine Meinung ändern«, sagte sie, während sie Tee nachschenkte. »Doch natürlich ist dies nicht der Grund.« Sie lächelte ihn an, und er vergaß darüber beinahe, dass sie blind war. »Wenn ich ehrlich sein soll, hat dein Verhalten an jenem Abend mein Interesse geweckt, als du die Kurtisane gegen die Gewalt dieses Verrückten verteidigen wolltest. Das ist ungewöhnlich für die Männer des Palastes. Das hat mich überrascht.«
    »Und darum habt Ihr mich eingeladen?«
    »Sagen wir, dass ich einfach … Lust darauf hatte.«
    Ci nahm einen Schluck Tee, um seine Verlegenheit zu überspielen. Als Blaue Iris sich vorbeugte und ihr Hanfu sich auf Brusthöhe teilte, war er kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Ob sie sich ihrer Bewegungen bewusst war? Steckte Berechnung dahinter?
    »Hübsche Antiquitäten«, bemerkte er recht unvermittelt.
    »Vielleicht für denjenigen, der sie sehen kann. Ich sammle sie nicht für mich, sondern zur Freude derer, die mich umgeben. Sie sind der Spiegel meines Lebens«, sagte sie und horchte auf Stimmen, die von draußen zu ihnen drangen. »Das muss mein Mann sein.«
    Blaue Iris erhob sich und wartete, bis sich die Tür öffnete. Ci tat es ihr gleich. Ein betagter Mann betrat den Raum – in Begleitung von Kan. Er trug Blumen im Arm, die er offenbar seiner Frau schenken wollte. Doch als er Ci sah, ließ er die Arme sinken, und die Blumen glitten zu Boden. Ci starrte den Alten ungläubig an, keiner von beiden brachte ein Wort hervor. Der mongolische Diener beeilte sich, die Blumen zwischen ihnen aufzusammeln.
    »Geliebter Gemahl«, sagte Blaue Iris. »Ich freue mich, dir unseren Gast vorzustellen, den jungen Ci. Ci, das ist mein Mann, der ehrenwerte Richter Feng.«
30
    Ci stand wie gelähmt vor dem Richter.
    Schließlich gemahnte er sich an die Regeln der Höflichkeit und verneigte sich. »Ehrenwerter Feng.«
    »Was machst du denn hier?«, fragte der Richter erstaunt.
    »Ihr kennt euch?« Kan war nicht minder überrascht.
    »Vor Jahren hat einmal mein Vater für ihn gearbeitet«, beeilte Ci sich zu antworten, und Feng korrigierte ihn nicht.
    »Vorzüglich«, freute sich Kan. »Dadurch wird alles einfacher.« Er wandte sich an Feng. »Ci hilft mir dabei, Berichte über die Jin zu schreiben. Ich dachte, dass die Erfahrung Eurer Ehefrau uns nützlich sein könnte.«
    »Da habt Ihr sicher recht! Aber setzen wir uns dochendlich«, lud Feng die Gäste ein. »Ci, sag mir, wie geht es deinem Vater? Und was führt dich nach Lin’an?«
    Ci senkte den Kopf. Er wollte nicht über seinen Vater sprechen. In Wirklichkeit wollte er über gar nichts sprechen. Wie oft hatte er sich gewünscht, Feng wiederzusehen, doch nun, da der Moment gekommen war, wollte er nur noch die Flucht ergreifen. Der Gedanke, dass er Unehre über Feng bringen könnte, wenn herauskam, dass man ihn wegen Diebstahls suchte, beschämte ihn. Aber noch schlimmer war etwas anderes: Er begehrte die Frau des Richters.
    »Mein Vater ist tot. Unser Haus ist eingestürzt. Es sind alle gestorben«, fasste er zusammen. »Ich bin in der Hoffnung nach Lin’an gekommen, an den Kaiserlichen Prüfungen teilzunehmen …« Ci sah starr auf seine Hände hinab.
    »Dein Vater tot! Aber warum bist du nicht zu mir gekommen?« Feng bat Iris, Tee nachzuschenken.
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Dieses Versäumnis werden wir wieder gutmachen«, antwortete Feng. »Kan hat mir gesagt, dass du im Palast lebst, aber wenn du schon mit meiner Frau arbeitest, würde ich vorschlagen, dass du zu uns ziehst. Natürlich nur, wenn Kan nichts dagegen hat.«
    »Ganz im Gegenteil«, antwortete Kan. »Das ist ein großartiger Vorschlag!«
    Heiße und kalte Schauer überliefen Ci. Er konnte diese Einladung nicht annehmen! Er konnte nicht denjenigen verraten, der für ihn wie ein Vater war. Sobald Grauer Fuchs zurückkäme, würden alle erfahren, dass er ein Flüchtiger war, und seine Schande würde auch auf Feng abfärben. Doch der Richter ließ nicht locker.
    »Du wirst sehen, dir wird es hier gutgehen.«
    »Ich will Euch wirklich nicht zur Last fallen.

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