Der Totenleser
ebenfalls im Pavillon einfinden würde. Trotzdem beschlich Ci ein Unbehagen. Die Verhaltensregeln waren eindeutig, eine verheiratete Frau durfte sich nicht mit einem fremden Mann treffen. Und es war offensichtlich, dass sich die Nüshi diesen Regeln nicht beugte.
In dieser Nacht konnte Ci kaum schlafen. Erst im Morgengrauen überwältigte ihn die Müdigkeit, und er träumte von Blaue Iris, von ihrer warmen Stimme, die ihm ein Wiegenlied sang.
* * *
Am nächsten Morgen war er so erschöpft, als hätte er einen ganzen Berg umgepflügt. Er beklagte diesen Umstand umso mehr, als er fürchtete, in diesem Zustand keinen guten Eindruck auf Blaue Iris zu machen. Obwohl sie blind war,beschloss Ci, sich ein wenig herauszuputzen und den Anzug zu tragen, den man ihm für den Empfang des Botschafters geschneidert hatte. Außerdem parfümierte er sich mit einigen Tropfen Sandelholz-Essenz. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er über die Geschichte der Jin wusste, und begab sich zum Seerosenpavillon, während sein Herz ihm einige Schritte voraushüpfte.
Der Pavillon lag inmitten des Waldes der Frische, der an den Gebäudekomplex grenzte, in dem die hohen Würdenträger des Palastes lebten. Ci folgte dem gepflasterten, von Zypressen gesäumten Weg, den Bo ihm gezeigt hatte.
Kurz vor der vereinbarten Zeit blieb er vor dem prächtigen Pavillon stehen, einem zweistöckigen Gebäude mit einem zum Himmel geschwungenen Vordach, das dem Flug der Kraniche nachempfunden schien. Ci rückte seine Mütze zurecht, als sich die Tür unerwartet öffnete und ein mongolischer Dienstbote zum Vorschein kam. Der Mongole lud ihn mit einer Verbeugung zum Eintreten ein und führte ihn in einen hellen Salon mit großen Fenstern.
Blaue Iris saß in einem weiten, türkisfarbenen Hanfu an einem Tisch, das Haar mit einem breiten Seidenband zurückgebunden. Bei Tageslicht erschien sie ihm noch schöner als am Abend des Festes. Er räusperte sich verlegen und sah sich nach dem Ehemann um, den er nirgends entdecken konnte. Was ins Auge fiel, waren die vielen wertvollen Antiquitäten, die jeden Winkel des Salons schmückten.
»So sehen wir uns also wieder«, sagte er schließlich und biss sich sogleich auf die Zunge, als ihm aufging, wie unpassend diese Formulierung war.
Blaue Iris lächelte ein wunderschönes Lächeln. Ci begann zu schwitzen, als er bemerkte, dass ihr Hanfu den Ansatz ihrer Brüste entblößte. Sie bat ihn, Platz zu nehmen, und schenkteihm eine Tasse Tee ein.Ihre Hände streichelten die Kanne mit einer Sanftheit, dass Ci sich wünschte, an ihrer Stelle zu sein.
»Ich danke Euch für die Einladung«, brachte er heraus.
Sie neigte höflich den Kopf. Dann schenkte sie sich selbst Tee ein und erkundigte sich nach dem Empfang des Botschafters. Ci plauderte freundlich mit ihr, doch vermied er es, den Mord an dem Bronzefabrikanten zu erwähnen. Danach entstand eine Stille, die Ci jedoch nicht unangenehm war. Träumerisch verfolgte er jede Bewegung von Blaue Iris, und jeder Wimpernschlag ließ sein Herz höherschlagen.
»Wo ist Euer Mann?«, fragte er plötzlich.
»Er kommt gleich«, gab sie mit gleichmütiger Miene zurück und wechselte das Thema. »Du wohnst also im Palast? Für einen einfachen Berater ein ziemlich außergewöhnliches Privileg …«
»Ebenso außergewöhnlich wie die Tatsache, dass eine Frau von Eurem Rang keine eingebundenen Füße hat«, antwortete er.
Rasch versteckte Blaue Iris ihre Füße unter dem langen Hanfu .
»Ein moderner Brauch, den mein Vater zum Glück ablehnte«, sagte sie kühl, so dass Ci seine Bemerkung sofort bereute.
»Ich bin erst seit kurzem im Palast«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel, um die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken. »Kan hat mich für einige Tage eingeladen, aber ich hoffe, bald wieder fortzugehen. Es ist kein Ort für mich.«
»Nein? Und wo ist der richtige Ort für dich?«
Er überlegte, was er antworten sollte.
»Ich studiere gerne.«
»Ach ja? Was denn? Die Klassiker? Die Literatur? Die Dichtkunst?«
»Die Chirurgie«, sagte Ci ohne zu zögern.
Blaue Iris verzog das Gesicht.
»Du musst entschuldigen, aber ich verstehe nicht, welches Interesse man daran haben kann, einen Körper aufzuschneiden«, sagte sie verwundert. »Und noch viel weniger, wie das mit deiner Arbeit als Berater von Kan zusammenhängt.«
Ci ärgerte sich über seine eigene Indiskretion. Blaue Iris lockte Dinge aus ihm heraus, über die er besser schweigen sollte. Er musste
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