Der Totenleser
erschaudern. Er konnte nicht verhindern, dass ihm das Eignungszertifikat aus den Händen glitt, als er die Tür zufallen hörte. Und als er sich bückte und unwillkürlich die Hände von Blaue Iris streifte, machte sein Herz vor Schreck einen Sprung.
Er wollte sich entschuldigen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er sei müde, gab er vor, und wolle sich nunzurückziehen. Die schöne, geheimnisvolle Iris nickte und bot ihm an, die Unterhaltung über die Jin fortzuführen, wenn er ausgeruht sei. Er bat sie noch um eine Portion gekochten Reis, da er später vielleicht hungrig sein könnte, und nahm den Teller mit auf sein Zimmer.
Fieberhaft zog Ci die Terrakotta-Scherben unter dem Bett hervor und begann mit der Arbeit. Er fing mit den größten Stücken an, die er mit einem Kohlestift nummerierte, damit er sich ihre Position merkte. Als er damit fertig war, versuchte er, sie mit Hilfe des klebrigen Reises zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Doch nach kurzer Zeit ließen ihn die Nerven im Stich, und die wenigen Fragmente, die er zusammengefügt hatte, lagen wieder verstreut auf dem Boden. Er versuchte es ein ums andere Mal, bis er fluchend alles aus der Hand legte. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, wusste er, dass das Zittern seiner Hände nur einen Grund hatte: die magische Anziehungskraft, die Blaue Iris auf ihn ausübte.
Er ließ sich auf das Bett fallen, doch es gelang ihm nicht, seine Unruhe abzustreifen. Die Seidenlaken streichelten seine Haut und ließen ihn von ihr träumen. Er versuchte, an Feng zu denken, doch vor seinem inneren Auge tauchten nur die runden Brüste von Blaue Iris auf.
Er beschloss, zur Entspannung ein Bad zu nehmen, und bat eine Dienerin um Handtücher. Als er in das angrenzende Zimmer hinüberging, erwartete ihn bereits eine mit Wasser gefüllte Wanne. Langsam zog er sich aus und stieg vorsichtig hinein. Die Frische beruhigte seine Nerven. Er schloss die Augen, tauchte auch den Kopf ins Wasser. Als er wieder hochkam, betrachtete er die Narben auf seinen Händen. Und er betrachtete die Verbrennungen auf seinem Oberkörper, die seine Haut überzogen wie verschlungene Lianen. Sie erschienen ihm so abscheulich wie seine Gedanken.
Er schloss wieder die Augen und lag ganz still im Wasser, auf der Suche nach einem Frieden, der ihm abhanden gekommen war. Doch der giftige Stachel des Verlangens ließ ihn keine Ruhe finden.
Wie war es möglich, dass ihm so etwas geschah? Wie konnte er es wagen, die Frau des Mannes zu begehren, der ihn wie ein Vater aufgenommen hatte? Je mehr er darüber nachdachte, je mehr er versuchte, sich von dieser süßen Versuchung zu lösen, desto mehr klammerte sie sich an ihn, hielt ihn gefangen und brach seinen Willen.
Über seinen Träumereien verstrich die Zeit, und nach und nach wich die Anspannung aus seinen Schultern, seine Arme ließen sich von dem leichten Wogen des Wassers tragen. Er fiel in einen leichten Dämmerschlaf und gelangte an einen nebeligen Ort, an dem ihn endlich der Frieden umfing, den er suchte.
Plötzlich nahm er einen durchdringenden Duft wahr. Sie war da.
Sie stand vor ihm, die blinden Augen auf seinen Körper gerichtet. Hastig versuchte er sich zu bedecken, ohne daran zu denken, dass sie ihn nicht sehen konnte.
»Geht es dir gut?«, fragte Blaue Iris sanft. »Die Dienerin hat mir gesagt, dass du baden wolltest, aber du liegst jetzt schon seit Stunden in dieser Wanne …«
»Tut mir leid«, antwortete er erschrocken. »Ich muss eingeschlafen sein.«
Wortlos tastete die Frau sich an der Wand entlang, bis sie an eine Truhe stieß, auf die sie sich niedersinken ließ. Ihre unerwartete Anwesenheit war ihm unangenehm.
»Du bist also Wu-tso . Eigenartiger Beruf.«
»Mich interessieren nur die Todesursachen«, entschuldigte er sich. »Genau wie Euren Ehemann.«
»Nicht mehr, seit sie ihn befördert haben. Seitdem kümmert er sich nur noch um Bürokratie. Und du? Womit beschäftigst du dich wirklich?« Sie stand auf und näherte sich der Wanne.
Ci räusperte sich.
»Das habe ich Euch schon gesagt. Ich arbeite als Kans Berater … Und eine Nüshi ? Was genau macht eine Nüshi ?«
»Oh, du weißt es also?« Die Frau umrundete mit vorsichtigen Schritten die Wanne und strich mit dem Finger auf dem Rand entlang. »Unter anderem war ich dafür zuständig, den Kaiser einzuseifen.« Sie tauchte ihre Hände in das Wasser.
Ci stockte der Atem. Er spürte die Bewegungen ihrer Finger in der Nähe seiner Füße. Ein Schauer überkam ihn –
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