Der Totenleser
ein solcher Fall vorsieht. Wir verließen Lin’an und gingen zurück ins Dorf, ins Haus meines Bruders.«
Er sah hinüber zu Feng, flehend, dass er keine weiteren Erklärungen über das ehrlose Verhalten seines Vaters abgebenmöchte. Doch der Richter schwieg. »Das Huhn ist köstlich«, fügte Ci hinzu in dem Versuch, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
Sie beendeten ihre Mahlzeit, während Feng von seinem Aufstieg und seinem Umzug in den Seerosenpalast erzählte. Der Richter gestand, dass er all das Blaue Iris zu verdanken hätte.
»Seit ich sie kenne, ist mein Leben ein anderes.« Er strich zärtlich über die Hand seiner Frau, doch sie zog sie wortlos zurück.
»Ich werde mehr Tee bestellen.«
Ci beobachtete, wie Blaue Iris aufstand und in die Küche ging, ohne sich ihres eigentümlichen roten Stockes zu bedienen, der ihr ständiger Begleiter war. Er konnte nicht aufhören, an ihre Haut zu denken. Feng schaute ihr ebenfalls nach.
»Niemand würde denken, dass sie blind ist.« Er lächelte stolz. »Sie könnte in den letzten Winkel des Hauses laufen, ohne irgendwo anzustoßen, und sie wäre schneller wieder zurück als du.«
Ci nickte, während er beobachtete, wie sich die schöne Frau seines väterlichen Freundes entfernte. Er fühlte sich wie ein Verräter, und die Reue nagte an ihm. Er wollte Feng die Wahrheit sagen, oder wenigstens einen Teil davon. Er musste es tun, sonst würde er platzen.
Er nutzte die Unterbrechung, um von Kan zu sprechen, doch vorher ließ er Feng schwören, dass er sein Geheimnis bewahren werde.
»Auch vor Blaue Iris«, fügte er hinzu.
Feng schwor es bei den Seelen seiner Toten.
Darauf erzählte Ci von seiner Flucht aus dem Dorf und von Kao, der ihn wegen Diebstahls gesucht hatte. Er erzählteihm auch von Grauer Fuchs. Dann sprach er über die eigenartigen Mordfälle, die er untersuchte, er beschrieb Feng jeden einzelnen Fall und was er herausgefunden hatte. Als er fertig war mit den grausamen Details, versicherte er, dass Kan überzeugt sei, es handle sich um einen Rachefeldzug gegen den Kaiser. Dass der Einäugige Blaue Iris verdächtigte, verschwieg er jedoch.
»Das ist ja unglaublich«, sagte Feng erstaunt. »Ich werde sehen, wie ich dir helfen kann. Und was diesen Kerl betrifft, den du fürchtest, Grauer Fuchs … Mach dir keine Gedanken. Sobald er aus Fujian zurückkehrt, werde ich die Angelegenheit klären.«
Ci zog sich der Magen zusammen. Wie konnte er diesen Mann nur hintergehen? Er wollte ihm gestehen, dass das wahre Motiv für seinen Aufenthalt im Seerosenpavillon in der vermeintlichen Verwicklung seiner Frau in die Mordfälle begründet war, als Blaue Iris an den Tisch zurückkehrte.
»Der Tee.«
Feng lächelte sie an. Er machte Platz auf dem Tisch und beeilte sich, ihr das Tablett abzunehmen, damit sie sich setzen konnte. Dann schenkte sie mit sanften Bewegungen den Tee ein.
Plötzlich sprang Feng auf.
»Das hatte ich ja vollkommen vergessen!«, rief er und entfernte sich. Kurz darauf kam er mit einigen Papieren zurück. »Hier, für dich, Ci.«
Ci nahm die Dokumente verwundert entgegen.
»Aber das …« Er sah Feng ungläubig an. In seiner Hand hielt er das Zertifikat, das seine Eignung für die Teilnahme an den Kaiserlichen Prüfungen bescheinigte. Das unehrenhafte Verhalten seines Vaters wurde mit keinem Wort erwähnt. Er hatte saubere Papiere. Er war geeignet. Mit Tränen in denAugen senkte er den Kopf, dankte Feng – und lächelte vor Glück.
Der Tee ging langsam zur Neige, als der mongolische Dienstbote sie unterbrach, um Feng zu informieren, dass einige Händler ihn vor der Tür erwarteten.
»Sie behaupten, es sei dringend.«
Feng entschuldigte sich, und kehrte wenig später empört zurück. Einer der Konvois, die Ware zur Grenze transportierten, war überfallen worden.
»Anscheinend wurden die Angreifer abgewehrt, aber wir hatten Verluste, und ein Teil der Lieferung ist verloren. Ich muss sofort aufbrechen«, sagte er bedauernd.
Ci seufzte. In diesem Augenblick hätte er alles dafür gegeben, Feng die wahren Motive seines Aufenthaltes enthüllen zu können, doch die Gelegenheit war verstrichen.
Bei der Verabschiedung flüsterte der Richter ihm ins Ohr: »Nimm dich vor Kan in Acht, und pass auf Iris auf.« Dann verschwand er.
31
Feng hatte ihm versichert, dass er nur einige Tage fort sein würde, um eine neue Lieferung aus den Lagern nahe der Stadt zu organisieren, doch die bloße Vorstellung, mit Blaue Iris allein zu sein, ließ Ci
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