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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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sie den Kaiser nicht verabscheuen? Sie hat viel unter ihm gelitten, doch von da bis zu einem Mord ist es ein weiter Weg … Ihr müsstet sie kennenlernen.« Ci senkte den Blick. »Diese Frau ist die Sanftheit in Person.«
    »Und wer sagt, dass ich sie nicht kenne? Das Eigenartige ist, dass du offenbar nie zuvor von ihr gehört hattest. Ci, ich fürchte ernsthaft, dass deine Gefühle deine klaren Gedanken trüben.«
    Ci wurde rot. »Was meint Ihr damit? Blaue Iris wäre nicht in der Lage, einer Fliege etwas zuleide zu tun.«
    »Das glaubst du? Ich nehme an, dass du den Grund kennst, warum Kaiser Nin Zong sie aus ihrer Verantwortung als Nüshi entließ?«
    »Natürlich kenne ich den! Als Nin Zong den Thron bestieg, wollte er sie loswerden, weil sie die Krankheit seines Vaters verursacht hatte. Der alte Kaiser war verrückt geworden, nachdem sie sich ihm verweigert hatte.«
    »Das hat sie dir erzählt?« Ming bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Es erstaunt mich, dass du nicht informiert bist über eine Geschichte, die alle Welt kennt.«
    »Und was besagt diese Geschichte?«, fragte Ci trotzig.
    Ming räusperte sich. »Nun, dass der alte Kaiser nicht wegen der Zurückweisung verrückt wurde. Die Ärzte, die ihn betreuten, fanden Gift in dem Tee, den sie für ihn zubereitete.«
    Ci fühlte einen tonnenschweren Zementblock auf seinen Magen drücken, während Mings Worte in seinem Kopf widerhallten. Er weigerte sich zu glauben, was er hörte, doch Mings Gesichtsausdruck ließ keinen Raum für Zweifel. Ci verwünschte seine Schwäche,die ihn in den Armen von Blaue Iris alles hatte vergessen lassen. Er war ihren Reizen vollkommen erlegen – und fühlte sich unendlich dumm, als hätte er seine Seele für ein paar wertlose Münzen verkauft. Er wollte Ming nach den Details fragen, doch ein Wachmann trat zu ihnen und unterbrach ihre Unterredung. Warum verschwindet er nicht wieder?, dachte Ci ärgerlich. Nach einer Weile gab Ci die Hoffnung auf und versuchte Ming lediglich noch davon zu überzeugen, sich in die Hände eines Arztes zu begeben. Dann verließ er das Zimmer mit schwirrendem Kopf.
    Er war niedergeschlagen, doch er musste sich zusammennehmen und die Ereignisse um Blaue Iris mit dem Verstand sortieren. Sie hatte ein Motiv: ihren Hass auf den Kaiser, den sie nicht nur nicht versteckte, sondern dessen sie sich vor jedem Dahergelaufenen zu rühmen schien. Und wenn sie fähig gewesen war, den alten Kaiser zu vergiften, warum sollte sie nicht auch andere Verbrechen begehen? Hinzu kamen ihre fehlenden Skrupel – sie hatte ihn nach allen Regeln der Kunst verführt und nicht gezögert, Richter Feng zu betrügen. Wie sehr er selbst auch Komplize ihrer Untreue gewesen war … Außerdem war da noch die Sache mit demParfüm, das sie direkt mit den gefundenen Leichen in Verbindung brachte.
    Doch warum sollte Blaue Iris vollkommen Unbekannte umbringen, die dem Kaiser fernstanden?
    Er beschloss, noch einmal die Gemächer von Sanfter Delphin aufzusuchen, denn es gab etwas, das er prüfen wollte.
    Eine träge Wache gewährte ihm den Zugang, nachdem er das Siegel überprüft und seinen Namen im Besucherregister vermerkt hatte. Sofort steuerte Ci den Raum an, den der Eunuch in sein privates Antiquitätenmuseum verwandelt hatte. Die edle Kalligraphie, die ihm bei seinem ersten Besuch aufgefallen war, hing an ihrem Platz. Er hatte sich nicht geirrt. Es handelte sich um die Dichtung des unsterblichen Li Bai. Die Nummer elf, die in der Sammlung von Blaue Iris fehlte! Und es war der gleiche Rahmen wie bei den übrigen zehn der Serie, die er im Pavillon von Blaue Iris gesehen hatte! Er schob den Rahmen vorsichtig ein Stück zur Seite, um seinen Abdruck auf der Wand zu prüfen. Grimmig untersuchte er nun alle Gemälde, die das Zimmer schmückten. Als er fertig war, verließ er mit einer Mischung aus Wut und Zufriedenheit die Gemächer des Eunuchen. Im Hinausgehen erinnerte er sich an das Register, in dem alle Personen festgehalten waren, die die Räume je betreten hatten. Einige Münzen wechselten den Besitzer, und schon erlaubte die Wache, dass Ci das Buch konsultierte. Fieberhaft ging Ci die Eintragungen durch. Die Mehrzahl der Namen war ihm unbekannt, glücklicherweise war auch die Funktion vermerkt, die sie im Palast innehatten. Unter anderem tauchten in dem Register Kan und Bo auf, und schließlich fand er den Namen, den er suchte. Die Schrift war deutlich und ließ keinen Zweifel: Zwei Tage nach dem Verschwinden des Eunuchen hatte

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