Der Totenleser
jemand namens Blaue Iris seine Gemächer besucht.
Cis Herz klopfte, er spürte, dass er sich der Wahrheit näherte. Ihm blieb noch eine Stunde bis zu seinem Treffen mit Iris, Zeit genug, um den Lagerraum aufzusuchen, wo sich die verkohlten Reste aus der Bronzewerkstatt befanden.
Allmählich fügten die Dinge sich zusammen.
Als er das Lager erreichte, stellte er überrascht fest, dass der Eingang unbewacht war. Besorgt sah er sich um – keine Menschenseele weit und breit. Drinnen herrschte vollkommene Dunkelheit. Argwöhnisch betrat er den Raum, er bemühte sich, kein Geräusch zu machen, doch nach wenigen Schritten stolperte er und stürzte. Als er den Boden neben sich abtastete, bemerkte er, dass die Mehrzahl der Objekte, die er und Bo klassifiziert hatten, verstreut herumlagen. Er fluchte und riss alle Tore auf. Als genügend Licht hereinfiel, sah er, dass der Lagerraum offensichtlich durchsucht worden war. Sofort ging er zu dem Ort, wo sie die Formen abgelegt hatten – die meisten waren zu Staub zerschlagen worden. Plötzlich hörte er über seinem Kopf ein Geräusch, instinktiv griff er nach der Keule, die neben den Scherben und Splittern lag. Das Geräusch war verstummt, und er konnte niemanden ausmachen, also untersuchte er weiter die Trümmer, bis er auf einen Sack mit Gipsresten stieß, mit dem man Positivabdrücke der Gussformen herstellte. Er hob ihn auf und betrachtete ihn. Plötzlich hörte er wieder das Geräusch, diesmal lauter als zuvor. Doch Ci blieb keine Zeit zu reagieren, denn schon sauste eine Lawine aus Stangen, Gittern und Hölzern auf ihn herab und begrub ihn unter sich.
Ci traute sich erst, die Augen zu öffnen, als sich der Staub etwas gelegt hatte und er wieder atmen konnte. Er sah kaum etwas, aber wenigstens war er am Leben. Sein rechtes Bein war unter einer Eisenstange eingeklemmt, er versuchte sich zu befreien, vergeblich. Langsam drangen die Sonnenstrahlendurch die Staubwolke, und gegen das Licht zeichnete sich undeutlich die Gestalt eines Unbekannten ab. Ci war wie gelähmt. Die Gestalt kam näher. Ci umklammerte eine Eisenstange, die in der Nähe lag, und machte sich bereit, sein Leben teuer zu verkaufen. Die Gestalt war jetzt nur noch einen Schritt von ihm entfernt. Sein Atem wurde schneller.
»Ci! Bist du das?«
Ci fuhr zusammen. Es war die Stimme von Bo!
»Geht es dir gut? Was ist geschehen?«, fragte Bo und mühte sich, die Eisenstangen zur Seite zu rollen, die Ci gefangen hielten.
Was hatte Bo hier zu schaffen gehabt? Misstrauisch fragte er ihn danach.
»Eine der Wachen informierte mich, dass jemand die Abwesenheit des Nachtwächters genutzt hatte, um die Tür aufzubrechen. Also bin ich gekommen, um die Sache zu überprüfen.«
Ci wusste nicht, ob er Bo vertrauen konnte. Er vertraute im Augenblick niemandem. Humpelnd verließ er den Lagerraum, das Gehen fiel ihm schwer. Daher bat er den Kaiserlichen Berater, ihn zu stützen und bis zum Seerosenpavillon zu begleiten.
Er erinnerte sich, dass die einzige Person, der er von seiner Absicht erzählt hatte, den Lagerraum aufzusuchen, Blaue Iris gewesen war. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich rasch um die Sicherheit seines möglicherweise wertvollsten Besitzes kümmern musste: der Gussform, die er unter seinem Bett versteckt hatte.
Auf dem Weg erkundigte sich Ci, ob die Befragung mit der Porträtzeichnung des Leichnams etwas ergeben hatte.
»Nein, bisher nicht«, sagte Bo. »Allerdings habe ich Neuigkeiten, was die amputierte Hand angeht. Bei der eigenartigenTätowierung, die du unter dem Daumen entdeckt hast, handelt es sich nicht um eine Flamme.«
»Sondern?«, fragte Ci neugierig.
»Ich habe sie von Chen Yu untersuchen lassen, einem berühmten Tätowierer vom Seidenmarkt. Einer der besten von Lin’an. Der Mann betrachtete sie lange, bevor er sagte, dass nach seiner Meinung der äußere Kreis durch die Einwirkung des Salzes ausgelöscht worden sei.« Bo bückte sich und zeichnete auf den sandigen Boden eine gekrümmte Flamme. Dann malte er einen Kreis darum. »In Wirklichkeit ist es keine Flamme. Es ist einYin-Yang-Symbol.«
»Das Symbol der Taoisten?«
»Noch genauer das eines alchemistischen Mönchs. Der Tätowierer hat mir versichert, dass als Pigment Zinnober verwendet wurde, das Erkennungszeichen der Okkultisten, die nach dem Elixier des ewigen Lebens suchen.«
Inzwischen hatten sie den Seerosenpavillon erreicht. Als der mongolische Diener sah, in welchem Zustand er sich hergeschleppt hatte,
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