Der Totenleser
doch so viele Indizien sprachen gegen sie.
»Euer Name taucht im Besuchsregister von Sanfter Delphin auf«, sagte er. »Und im Salon dort hängt die Kalligraphie mit dem elften Gedicht von Li Bai. Eine Antiquität, die Euch gehört, die an Euren Wänden hängen sollte und die Ihr gegen ein grobes Porträt des Dichters ausgetauscht habt. Ein Text, den der Eunuch niemals hätte käuflich erwerben können.« Er hoffte, dass sie ihm widersprechen würde, doch sie schwieg. »Ich habe die Siegel gelesen, die den Besitzer anzeigen. Diese Werke gehörten Eurem Großvater. Wenn es stimmt, dass Ihr ihn so in Ehren haltet, hättet Ihr niemals zugelassen, dass sie Euer Heim verließen. Es sei denn …«
»Es sei denn?«, fragte sie und wandte sich zum Gehen.
»Wohin geht Ihr?«
»Lass mich!«,rief sie aufgebracht.»Frag Kan! Er besitzt Dutzende Fläschchen mit Jade-Essenz, die er besorgte, um mich zu beschenken. Was das Gedicht von Li Bai betrifft, das hat mein Mann Kan geschenkt, also frag ihn, wie es in die Hände von Sanfter Delphin gelangen konnte.« Sie holte tief Luft,bevor sie weitersprach. »Und falls du es nicht weißt,an dem Tag, als ich die Gemächer des Eunuchen betrat, tat ich es, um einige Porzellanminiaturen zu holen. Ja, der Eunuch war mein Freund. Darum informierte mich Kan, dass er verschwundensei, und bat mich, die Miniaturen zu holen, die mir gehörten … Wenn du mir nicht glaubst, dann frag ihn danach.«
Wieder allein, versuchte Ci, einen klaren Kopf zu bekommen. Er bereute es, gegen die Frau, die ihn in der vergangenen Nacht mit solcher Leidenschaft geliebt hatte, solch schwere Anschuldigungen vorgebracht zu haben. Er hatte sie anhand von Indizien in die Enge gedrängt, doch Beweise hatte er nicht.
Aus welchem Grund hätte Blaue Iris diese Männer töten wollen? Vielleicht lag die Antwort darauf in den Terrakottascherben.
Seufzend holte er die Scherben wieder hervor und machte sich verbissen daran, sie zu einer Gussform zusammenzusetzen.
Nach und nach nahm das Objekt Form an, bis er schließlich zwei Hälften vor sich hatte, die als Ganzes einen quaderförmigen Klotz von den Ausmaßen eines Unterarms bildeten. Er legte die übrigen Scherben zur Seite, sie schienen Teil einer inneren Konstruktion zu sein, und band die beiden Schalen vorsichtig mit einer Schnur zusammen. Dann mischte er in einer Waschschüssel den Gips an, den er aus dem Lagerraum mitgenommen hatte, und goss die Masse in die Form. Ungeduldig wartete er darauf, dass sie fest wurde, schließlich klappte er die beiden Hälften auseinander.
Ci betrachtete das Ergebnis seiner Arbeit. Auf dem Boden lag ein Stück Gips, das mit viel Phantasie an ein Zepter erinnerte. Sein Durchmesser entsprach in etwa dem eines Schwertgriffs, man konnte es gut mit der Hand umfassen. Doch vermochte er sich keinen Reim darauf zu machen,welchem Zweck das Ding diente.Ratlos und enttäuscht verstaute er die Form in seinem Schrank. Die übriggebliebenen Scherbenversteckte er zusammen mit dem Gipsabguss unter einer losen Bodendiele. Dann verließ er den Seerosenpavillon.
Er irrte ziellos umher. Er war daran gewöhnt, Leichen zu analysieren, Zeichen zu deuten und unsichtbare Wunden sichtbar zu machen, doch er wusste nicht mit Intrigen und Fehden umzugehen, mit Leidenschaft und Lügen, die sich einem rationalen Zugriff verweigerten.
Wer manipulierte ihn tatsächlich? War es Iris, die ihn nach allen Regeln der Kunst verführt hatte? Oder war es Kan, der, wenn die Aussage der schönen Iris stimmte, sich bitter an der Frau rächen wollte, die ihn gedemütigt hatte?
Die Möglichkeit bestand, dass Kan Blaue Iris zu den Gemächern des Eunuchen begleitete hatte, und wenn er tatsächlich Zugang zur Jade-Essenz hatte, ergab es auch einen Sinn, dass er Parfümspuren an den Opfern hinterlassen hatte, um sie zu belasten. Hinzu kam, dass Blaue Iris ihren Abscheu gegen den Kaiser nie verhehlt hatte, wodurch sie eine große Angriffsfläche für Beschuldigungen bot. Und war Kan nicht der Letzte gewesen, der den Bronzefabrikanten lebend gesehen hatte? Ci kam auch das seltsame Treffen des Strafrats mit dem Botschafter der Jin in den Sinn, für das er nur eine fadenscheinige Erklärung abgegeben hatte.
Fieberhaft überlegte er, wie er nun vorgehen sollte. Mit Kan konnte er nicht darüber reden, das Einzige, was er erreichen würde, wäre, seinen Argwohn zu wecken. Für nichts hatte er schlüssige Beweise. Und er erinnerte sich gut daran, dass Bo ihn vor dem hitzigen Temperament
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