Der Totenleser
doch dann erhob sich Blaue Iris abrupt.
»Das Abendessen ist bereit. Ich erwarte dich im Esszimmer.« Während sie den Raum verließ, fühlte Ci sich, als habe er den Kuss einer Göttin empfangen, die sein Verderben bedeutete.
Wäre es nicht so unhöflich gewesen, dem Abendessen fernzubleiben, hätte er darauf verzichtet. Befangen betrat er den kleinen Salon, in den ihn die Dienerin führte, ein abgelegenes Zimmer, in dem Blaue Iris auf einem Schemel saß und auf ihn wartete. Sie trug eine luftige Bluse, die ihre weichen Formen erahnen ließ. Ci schluckte, er konnte den Blick nicht abwenden, verfolgte jede Bewegung ihrer wohlgeformten Arme und gepflegten Hände. Sanft betastete sie die Früchte auf dem Tisch, um ihre Reife und Oberfläche zu prüfen. Ihm wurde heiß und kalt, er konnte sich gar nicht sattsehen an ihr.
»Wohin schaust du?«, fragte sie.
Ci fuhr zusammen.
»Nirgendwohin«, antwortete er.
»Nirgendwohin? Gefällt dir nicht, was sie uns aufgetragen haben? Es gibt sogar Rosinen.«
»Oh doch, natürlich!« Er griff nach einer der seltsamen Früchte.
»Du wolltest wissen, was die Aufgaben einer Nüshi sind … Interessiert es dich wirklich?«, fragte sie unvermittelt.
»Sehr … Ja, wirklich«, stammelte Ci.
Iris nippte an ihrem Tee, ihre Lippen wurden feucht. Langsam stellte sie das Tässchen wieder ab und legte die Hände in den Schoß. Ci vermutete, dass sie wusste, dass er sie ansah.
»Du solltest allerdings zuerst aufessen und vielleicht noch ein wenig mehr trinken, denn du wirst eine Geschichte voller Bitterkeit zu hören bekommen.« Sie lächelte traurig. »Als ich in den Dienst des Kaisers eintrat, war ich noch ein Kind, ein Zustand, den dieser Mann innerhalb weniger Tage beendete. Er hatte etwas in mir gesehen, und dann nahm er es sich einfach. Fortan wuchs ich zwischen Konkubinen auf. Sie wurden meine Schwestern, die mir beibrachten, wie man lebt. Wie man für ihn lebt, wie man den Sohn des Himmels mit seelenloser Kunstfertigkeit befriedigt.« Ihre Augen wurden feucht. »Anstatt zu spielen, lernte ich zu küssen. Anstatt zu lachen, lernte ich zu gefallen … Die Texte von Konfuzius? Die ›Fünf Klassiker‹? Niemals habe ich sie gehört. Mir wurden die Klassiker der Liebeskunst vorgelesen: der Xu-annüjing – das wollüstige ›Handbuch des mysteriösen Mädchens‹ –, das Xufangneimishu , das mich in die geheime Kunst des Schlafzimmers einweihen sollte, die Ufangmijue , in der von den geheimen Formeln des Thalamus die Rede war, und die Unüfang , die ›Rezepte der einfachen Dame‹ … Mit der Zeit, während mein Körper vom Mädchen zur Frau reifte, ergriff mich ein wahnsinniger Hass auf ihn. Und je mehrich ihn hasste, desto mehr begehrte er mich.« Sie schloss die Augen. »Ich lernte, besser zu sein als die anderen – in dem Bewusstsein, dass meine Rache umso effektiver sein würde, je mehr er mich begehrte. Und Rache war mein einziger Wunsch.« Sie richtete ihren Blick auf Ci, als könnte sie ihn sehen. »Ich wurde zu seinem Liebling. Er labte sich Tag und Nacht an mir. Und als er alles von mir bekommen hatte, als aus meinem Körper nichts weiter für ihn herauszuholen war, wollte er auch meine Seele.«
Tränen liefen ihr über die Wangen, und Ci spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
»Ihr müsst nicht weitersprechen. Ich …«
»Du wolltest es hören, oder?«, unterbrach sie ihn. »Weißt du, wie das ist, wenn jemand dich auspresst wie eine Zitrone? Wenn man sich benutzt fühlt, und noch schlimmer, wenn man dann verbraucht und leer zurückbleibt? Wenn einem nicht einmal die Selbstachtung bleibt, wenn die Ehre, das Ansehen, alle Achtung zerstört ist …« Sie trocknete sich die Tränen. »Ich war nichts mehr als eine Hülle, eine trockene Schale ohne Farbe und Aroma. Ich begann mich zu hassen, während all die anderen Konkubinen mich beneideten. Jede von ihnen hätte sofort mit mir getauscht, sogar mit meiner Blindheit, nur um sein Liebling zu sein. Dabei wünschte ich mir so sehr, Kinder zu bekommen wie sie.« Sie lachte bitter auf. »Natürlich bekam ich etwas im Austausch gegen meine Würde … Vor allem bekam ich am Ende meinen Willen. Als ich erreicht hatte, dass der Kaiser im Schlaf nach mir rief, dass er fiebrig aufwachte und nach mir tastete, damit ich seinen Durst nach Fleisch stillte, da verweigerte ich mich ihm. Ich täuschte eine Krankheit vor, für die seine Ärzte kein Heilmittel fanden. Von dem Tag an verwandelte sich sein stolzes Jadeschwert in ein
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