Der Totenleser
gegessen hatten. Der Tee schmeckte nach gar nichts. Er seufzte und nahm den Geruch von Blaue Iris wahr, der noch an seiner Haut haftete. Doch ihr süßer Duft hinterließ diesmal einen bitteren Nachgeschmack.
Wie würde er Feng gegenübertreten? Konnte er ihm begegnen, ohne den Blick zu senken? Er wusste, dass er es nicht konnte. Er war nicht einmal in der Lage, sich selbst in dem herrlichen Bronzespiegel anzusehen, der den Raum dominierte. Er stürzte den Tee hinunter und versuchte, die Nachwirkungen des Rausches der vergangenen Nacht zu lindern. Dann stand er auf, um sich zu waschen, so als könnte das Wasser die Schande von seinem Körper tilgen, mit der er sich bedeckt hatte. Er sehnte sich nach der Lust, die er mitBlaue Iris geteilt hatte, und gleichzeitig verabscheute er sich dafür.
Auf dem Weg in sein Zimmer blieb er einen Augenblick vor dem großen Salon stehen, beeindruckt von der Schönheit der Antiquitäten, die ihn schmückten. Die prächtigen Krüge und Vasen, die Gemälde und Spiegel stellten die Sammlung des Eunuchen Sanfter Delphin vollständig in den Schatten. Von besonders ausgesuchter Schönheit waren die altertümlichen Kalligraphien, die in eindrucksvollen Rahmen an der Wand hingen. Die Texte stammten von dem berühmten Taoisten Li Bai, dem unsterblichen Dichter der Tang-Dynastie. Leise und langsam las Ci die Strophe.
Zu meiner Lagerstätte scheint licht der Mond herein, bedeckt mit fahlem Glanze wie kalter Reif den Rain. Ich heb das Haupt und blicke empor zum lichten Mond, drauf laß ich’s wieder sinken und denk der Heimat mein.
Einen Moment lang fand Ci sich in diesem Vers gespiegelt.
Er las weiter, bis er zu einer kleinen Inschrift kam, die besagte, dass die Komposition Teil einer Serie von elf Kalligraphien war. Doch an dieser Wand hingen nur zehn. An dem Ort, an dem die elfte hätte hängen müssen, befand sich das Porträt des Dichters, und darunter war noch der Abdruck eines anderen Rahmens erkennbar. Ein Abdruck, der dem ähnelte, den die zehn anderen auf der Seide hinterlassen hatten.
Er wollte sich gerade Gewissheit verschaffen, als er spürte, dass jemand hinter ihn getreten war. Er wandte sich um und stieß beinahe mit Blaue Iris zusammen.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich betrachte diese wunderschönen Kalligraphien«, sagte Ci.
»Die Bedienstete sagte, du habest nach mir gefragt.«
»So ist es. Aber sie wusste nicht, wo Ihr wart.« Er versuchte, ihre Hand zu greifen, doch sie zog sie zurück.
»Ich war draußen, spazieren«, sagte sie kühl.
Ci deutete auf die Kunstwerke. »Beeindruckende Gedichte. Hingen da immer zehn?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Ich kann sie nicht sehen.«
Ci runzelte die Stirn.
»Ist etwas passiert? Letzte Nacht …«
»Die Nächte sind dunkel«, unterbrach sie ihn. »Die Tage bringen Klarheit. Sag mir, was hast du heute vor? Wir haben noch immer nicht über die Jin gesprochen.«
Ci räusperte sich. Er sagte, dass er am Vormittag zu tun habe. Er wolle nach einem kranken Freund, dem Meister Ming, sehen und noch einmal den Lagerraum mit den Überbleibseln der Bronzefabrik aufsuchen.
»Also mittags?«, schlug sie vor.
»Ja.«
»In Ordnung. Ich warte hier auf dich.«
Unruhig verließ Ci den Seerosenpavillon. Er wollte Blaue Iris so gern vertrauen, doch diese Frau irritierte ihn. Sie erschien ihm mysteriös und gefährlich.
Sollte er mit Ming darüber sprechen?
Er fand den alten Meister in einem kargen, aber sauberen Zimmer, in dessen Nähe auch Bos Gemächer lagen. Ming schien in besserer Verfassung zu sein, obwohl seine Beine immer noch eine beunruhigende violette Färbung aufwiesen. Ci erkundigte sich, ob ein Arzt bei ihm gewesen sei. Ming schüttelte den Kopf.
»Diese Quacksalber brauche ich nicht.« Er richtete sich stöhnend auf.
Ci entdeckte den Napf mit angetrockneten Reisresten, der neben dem Bett stand. Hätte er das gewusst, hätte er Obst und Wein mitgebracht!
Als er sicher war, dass niemand mithörte, offenbarte er Ming seine Zweifel an Blaue Iris. Ein Verdacht, der ihn quälte, der jedoch immer drängender wurde. Er zählte seinem Lehrmeister die Indizien auf, die darauf hindeuteten, dass die geheimnisvolle Schöne zwei Gesichter hatte, obwohl er sie gleich darauf verteidigte.
Ming hörte Ci aufmerksam zu. Seine Miene verriet Besorgnis.
»Nach dem, was du erzählst, hätte sie gleich mehrere Motive«, sagte er.
»Ja, aber wie gesagt, es sind nur Vermutungen. Es liegt kein Beweis gegen sie vor. Und wie sollte
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