Der Totenleser
ihrer Unterhaltung zu folgen, also antwortete er, es sei nichts.
»Bist du sicher?«, insistierte Ming.
Ci log besser, als er je zuvor gelogen hatte – die Miene des Professors hellte sich wieder auf, während sein eigenes Gemüt sich verdüsterte. Er verabscheute es zu lügen, doch in letzter Zeit schien er es zu einiger Meisterschaft gebracht zu haben. Er hatte Blaue Iris belogen, Richter Feng und nun auch noch Ming. Er verabschiedete sich und versicherte ihm, er werde sich darum kümmern, dass man ihn so schnell wie möglich in die Akademie verlegte. Dass er ein Manuskript aus seiner Bibliothek genommen hatte, sagte er ihm nicht.
Als er das Zimmer verlassen hatte, war er nicht gerade stolz auf sein Verhalten. Niedergeschlagen fragte er sich, was er hier eigentlich tat, was er erreichen wollte und zu wem er geworden war.
Intuitiv schlug er die Richtung zum Seerosenpavillon ein.
Als er die Silhouette Fengs vor dem Gebäude ausmachte, wurde ihm schwer ums Herz. Der Richter war gerade dabei, ein halbes Dutzend Männer zu beaufsichtigen, die Gepäckstücke und Säcke ins Haus trugen.
»Ci!«, rief er erfreut. »Iris hat mir gesagt, du hättest uns verlassen, aber ich habe ihr versichert, dass das unmöglich ist.« Er umarmte ihn mit Überschwang.
»Ihr seid früher zurück als geplant«, sagte Ci mit gesenktemKopf. Er dachte, dass ihm die Schande ins Gesicht geschrieben stehen musste.
»Glücklicherweise konnte ich den neuen Konvoi schnell organisieren. Los, hilf mir mal mit diesen Geschenken … Iris! Sieh mal, wer zurückgekommen ist!«
Ci grüßte sie schüchtern, doch sie machte auf dem Absatz kehrt. Beim Essen sprach Iris kein Wort und aß keinen Bissen von dem karamellisierten Hühnchen, das der mongolische Diener aufgetragen hatte. Feng erkundigte sich nach dem Vorfall, der in aller Munde war.
»Ein Selbstmord!«, rief der Richter. »Ich habe immer gesagt, dass Kan eine dunkle Seite hatte, doch niemals hätte ich ihm so etwas zugetraut. Was wirst du jetzt tun, Ci?«
Ci schluckte das Hühnchen herunter, ohne zu kauen. Er traute sich nicht, Feng in die Augen zu schauen, schon gar nicht in Gegenwart seiner Frau.
»Ich werde wohl in die Akademie zurückkehren«, antwortete er einsilbig.
»Um jeden Tag minderwertigen Reis zu essen? Das kommt gar nicht in Frage. Du bleibst hier bei uns! Nicht wahr, Iris?«
Die Frau antwortete nicht, stattdessen entschuldigte sie sich für ihre Kopfschmerzen. Als sie aufstand, um sich zurückzuziehen, bot Feng an, sie zu begleiten, doch sie lehnte seine Hilfe ab und ging alleine in ihre Gemächer.
»Manchmal sind die Frauen komisch … Aber ich hoffe, du wirst genug Gelegenheit haben, Iris besser kennenzulernen!«
Ci war es unmöglich, den Bissen herunterzuschlucken, den er im Mund hatte. Er spuckte ihn in einen Napf. Besorgt schenkte Feng ihm einen Tee ein und schlug vor, dass sie in die Bibliothek hinübergingen.
Die Bibliothek war ein behaglicher Raum mit großen Fenstern. Eine leichte Brise trug den Duft des Jasmins herein.
Ci hatte keine Ahnung, wie er beginnen sollte. Er haderte mit den Worten, bis er Feng geradeheraus gestand, dass Kan ihn beauftragt hatte, Blaue Iris auszuspionieren.
»Meine Frau?« Die Teetasse zitterte in Fengs Händen.
Ci versicherte ihm, dass er sich geweigert hatte, weiterzumachen, nachdem er wusste, dass sie seine Frau war. Doch Kan habe ihn erpresst, indem er das Leben von Professor Ming in die Waagschale warf.
Auf Fengs Gesicht spiegelte sich zunächst ungläubiges Erstaunen. Als er dann aber hörte, dass Kan Blaue Iris für schuldig der grässlichen Morde gehalten hatte, bebte er vor Empörung.
»Wie kann er nur! Wenn er sich nicht selbst umgebracht hätte, würde ich ihn eigenhändig in Stücke reißen!«
Ci sah Feng fest an.
»Wenn es doch nur so wäre. Aber Kan hat sich nicht selbst umgebracht.«
»Was willst du damit sagen? Man erzählt sich, dass er ein besiegeltes Geständnis hinterlassen hat.«
Ci erzählte Feng von seinen Beobachtungen, die er angestellt hatte.
»Er hing an einem Strick aus geflochtenem Hanf. Dünn, aber reißfest. Wie man ihn benutzt, um Schweine aufzuhängen …«
»Das ist genau richtig für ihn«, murmelte Feng voller Abscheu.
»Ja. Aber sein Verhalten war nicht das eines Menschen, der beschlossen hat, sich umzubringen.«
»Menschen ändern ihre Meinung.Vielleicht überfielen ihn die Angst und die Schuldgefühle in der Nacht. Er brach zusammen und handelte spontan.«
»Hätte er dann nicht
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