Der Totenleser
zog mit einer kurzen, heftigen Bewegung in beide Richtungen. Dann entfernte er den Faden und zeigte Feng die Spur, die er hinterlassen hatte. »Die Furche, die der Faden im Staub des Buchrückens hinterlassen hat, ist klar definiert und gerade. Und jetzt noch einmal.« Ci wiederholte sein Experiment an einer anderen Stelle des Buchrückens, doch diesmal simulierte er einen strampelnden Menschen, der an den Enden hing. »Seht Ihr den Unterschied?« Ci zeigte auf den breiten und ausgefransten Streifen. »Als ich hinaufkletterte, um den Balken zu überprüfen, an den der Strick gebunden war, habe ich im Staub eine saubere Spur entdeckt, ohne irgendein Zeichen von Widerstand.«
»Das alles ist sehr überraschend! Und warum hast du das dem Kaiser nicht mitgeteilt?«, wunderte sich Feng.
»Ich war nicht sicher«, log Ci. »Ich wollte erst mit Euch sprechen.«
»Nun, soweit ich sehe, gibt es keinen Zweifel. Vielleicht ist das Schuldeingeständnis das einzige unpassende Element.«
»Im Gegenteil, es passt genau. Und zwar so: Kan lässt zwei Männer in sein Zimmer, die er kennt und denen er vertraut. Plötzlich bedrohen sie ihn und zwingen ihn, sich der Verbrechen schuldig zu bekennen. Kan, der um sein Leben fürchtet, gehorcht ihnen und schreibt ein Schuldgeständnis. Doch in der Notiz ist keine Rede von Selbstmord, weil seine Mörder nicht wollen, dass Kan etwas ahnt. Sobald das Geständnis unterzeichnet ist, bieten sie ihm ein Glas Wasser an, um seine Nerven zu beruhigen – mit Betäubungsmittel versetztes Wasser, damit es keinen Lärm und keinen Widerstand gibt. Als er ohnmächtig niedersinkt, ziehen sie ihn aus, schieben die schwere Truhe in die Mitte des Zimmers und binden einen unbenutzten Hanfstrick an den Querbalken, den sie besorgt haben und der dünn sein musste, damit man ihn besser verstecken konnte. Dann transportieren sie den schlafenden Kan hinüber zur Truhe, setzen ihn darauf und stecken seinen Kopf durch die Schlinge. Zu zweit ziehen sie ihn hoch, noch lebendig, damit sein Körper genau dieselben Reaktionen wie der eines jeden anderen Selbstmörders zeigt. Anschließend legen sie seine Kleider sorgfältig zusammen und verlassen das Zimmer.«
Feng sah Ci mit offenem Mund an.
»Wir müssen sofort mit dem Kaiser sprechen!«
Ci gab zu bedenken, dass seine Entdeckung erneut den Verdacht auf Blaue Iris lenken könnte.
»Erinnert Euch an den Vorfall mit der blutigen Klinge undden Fliegen.« Cis Stimme zitterte. »Ich half, einen Schuldigen zu entlarven, doch ich verlor einen Bruder.«
»Bei allen Göttern, Ci! Dein Bruder hat sein Urteil selbst gesprochen, in dem Moment, als er diesen Dorfbewohner ermordete. Mach dir also keine Sorgen wegen meiner Frau, sie ist unschuldig.« Er stand auf, um zu gehen. »Übrigens, das habe ich ganz vergessen. Heute Morgen habe ich im Palast diesen neuen Richter gesehen, Grauer Fuchs.«
Ci schrak zusammen. Ihn hatte er über der ganzen Aufregung vollkommen vergessen.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Feng. »Jetzt ist es schon spät, doch morgen früh werden wir mit dem Kaiser sprechen. Wir werden ihm deine Erkenntnisse mitteilen und deine Situation offenlegen. Ich weiß nicht, was dieser Graue herausgefunden haben mag, aber wenn er vorhat, auf deine Kosten aufzusteigen, wird ihm das nicht gelingen.«
Ci dankte Feng. Doch die Idee, ihn zum Kaiser zu begleiten, überzeugte ihn nicht.
»Seid mir nicht böse, aber Ihr werdet über Blaue Iris sprechen. Das sind private Angelegenheiten, bei denen meine Anwesenheit überflüssig ist«, entschuldigte er sich.
Feng räumte ein, dass er recht habe. Doch er ließ nicht zu, dass Ci sein Angebot der Unterkunft ausschlug.
»Auf keinen Fall werde ich erlauben, dass du in die Akademie zurückkehrst«, entrüstete er sich. »Du wirst mit uns im Seerosenpavillon wohnen, bis dein Name vollständig rehabilitiert ist.«
Es war Ci unmöglich, das auszuschlagen.
Sie aßen zu Abend und sprachen über Belanglosigkeiten, doch Ci wurde nicht ruhiger. Ihn quälte die Gegenwart von Blaue Iris, so wie es ihn quälte, Feng lächelnd und ahnungslos zu sehen.Während er lustlos kaute, fragte er sich, wer Kanumgebracht haben mochte. Und er fragte sich, ob Feng seine Frau auch so blind verteidigen würde, wenn er von ihrer Untreue wüsste.
Bevor er sich schlafen legte, überflog Ci das Ingmingji , das Manuskript über juristische Prozesse, das er aus Mings Bibliothek geholt hatte. In ihm waren einige der kompliziertesten Fälle der letzten hundert
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