Der Totenleser
das Erstbeste genommen, das ihm indie Finger kam? In seinem Zimmer gab es Vorhangkordeln, Hanfu -Gürtel, lange Seidentücher, Laken, die er zusammenknoten konnte …«
»Ich verstehe den Grund deines Misstrauens nicht. Es gibt doch schließlich die von ihm besiegelte Nachricht, die du selbst gelesen hast. In der er seinen Selbstmord ankündigt.«
»Nein, in der Nachricht bekennt er sich schuldig, aber an keiner Stelle ist die Rede davon, dass er sich umbringen will. Meine Vermutung wird von weiteren Ereignissen gestützt, die sie zur Tatsache erheben«, verkündete Ci. »Zunächst ist da seine ordentlich zusammengefaltete Kleidung auf dem Tischchen. Es erscheint mir sehr seltsam, dass sie auf vollkommen andere Weise zusammengefaltet war als die in seinem Kleiderschrank.«
»Du willst damit andeuten, dass er sie nicht selbst zusammengelegt hat.«
Ci nickte.
»Eine scharfe Beobachtung, wenngleich ein Anfängerfehler«, wehrte Feng ab. »In jeder einfachen Familie hätte deine Beobachtung zugetroffen, aber ich versichere dir, dass die Räte im Palast ihre Kleidung niemals selbst zusammenlegen. Diese Aufgabe obliegt den Bediensteten, und darum ist das Detail, das du nennst, nur der Beweis dafür, dass Kan seine Kleidung anders zusammenfaltete als seine Dienstboten.«
Ci musste zugeben, dass er daran nicht gedacht hatte. »Ihr habt recht, entschuldigt meine Anmaßung. Doch sagt mir, welchen Reim macht Ihr Euch auf die Truhe?«
»Eine Truhe? Ich verstehe nicht …«
»Er platzierte sie unter dem zentralen Querbalken, an dem er hing.«
»Und was ist daran bemerkenswert?«
»Nicht viel.« Er machte eine Pause. »Wenn die Truhe nichtvoller Bücher wäre. Ich habe versucht, sie zu bewegen, doch es ist mir nicht gelungen. Um sie zu verschieben, hätte ich die Hilfe einer weiteren Person benötigt.Warum sollte er etwas so Schweres durch die Gegend schieben, wenn er doch zahlreiche Stühle besaß? Aber das ist nicht alles«, fuhr Ci fort. »Um auf den Strick zurückzukommen, den er benutzte, um sich zu erhängen – er war neu. Der Hanf war noch vollkommen makellos. Wie eben geflochten. Und doch gab es ein Stück, an dem die Kordel abgeschabt war, und zwar an ihrem losen Ende. Ein abgeschabtes Stück von etwa zwei Ellen Länge. Kurioserweise dieselbe Strecke wie von den Füßen des Toten bis zum Boden.«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
»Wenn er sich selbst erhängt hätte, hätte er erst den Strick über den Balken geworfen, dann den Kopf in die Schlinge gesteckt und wäre schließlich von der Truhe gesprungen. In dem Fall wäre der Strick unversehrt geblieben.« Er stand auf und ging schweigend auf und ab. Dann blieb er vor Feng stehen und führte seine Überlegungen aus. »Meiner Meinung nach war Kan bereits bewusstlos, bevor er an dem Balken hing. Höchstwahrscheinlich wurde er betäubt. Mindestens zu zweit legten sie ihn auf die Truhe, steckten seinen Kopf durch die Schlinge, warfen das Ende des Seils über den Querbalken und zogen, bis er in der Luft schwebte. Dabei entstand der Abrieb der Hanfkordel am Balken, verursacht durch Kans Gewicht.«
»Interessant«, räumte Feng ein. »Und warum denkst du, dass Kan vor seinem Tod bewusstlos war?«
»Wenn wir uns einig sind, dass wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, ist davon auszugehen, dass Kan seinen Mördern Widerstand geleistet hätte. Doch sein Körper wies keinerlei Schrammen, Hämatome oder sonstige Kampfspurenauf. Man könnte an eine Vergiftung denken, doch sein Herz schlug noch, als man ihn henkte. Die vitale Reaktion seiner Haut an der Kehle, die gegen die Zähne gedrückte Zunge und die schwarz verfärbten Lippen bezeugen es, so dass allein die Möglichkeit einer Betäubung bleibt.«
»Nicht unbedingt. Vielleicht haben sie ihn auch gezwungen.«
»Das bezweifle ich. So schrecklich die Bedrohung auch gewesen sein mag, sobald die Schlinge seinen Hals einschnürte und sein Körper im Leeren hing, hätte er sich instinktiv gewehrt, um sich zu befreien.«
»Vielleicht war er an den Händen gefesselt …«
»Es waren keine Abdrücke an seinen Handgelenken. Dafür eine andere Spur, die meinen Verdacht definitiv erhärtet.« Er suchte in der Bibliothek nach einem staubigen Buch, setzte sich wieder zu Feng und klemmte es mit dem Buchrücken nach oben zwischen seine Knie. Dann zog er einen Faden aus seinem Ärmel und legte ihn auf den Buchrücken. Die beiden Enden hingen an den Seiten herab. »Schaut her.« Ci fasste die beiden Enden und
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