Der Totenleser
Jahre zusammengetragen. Er hätte gerne mehr gelesen, doch bald ließ seine Konzentration nach. Er legte die Schrift beiseite und ging ins Bett, aber er konnte nicht einschlafen. Er musste an Blaue Iris denken.
Er traf sie am nächsten Morgen, als sie sein Schlafzimmer betrat, wiederum ohne anzuklopfen. Sie legte eine Hose und eine Jacke ans Fußende des Bettes.
Ci antwortete nicht. Er traute sich nicht einmal mehr, sie mit seinen Worten zu streifen. Doch als er merkte, dass sie keine Anstalten machte zu gehen, fühlte er sich zu einer Antwort verpflichtet.
»Was willst du von mir?«, fragte er.
»Deine schmutzige Wäsche«, antwortete sie trocken. »Die Waschfrau wartet draußen.«
Ci gab ihr seine Kleidungsstücke, und Iris sagte, dass sie ihn im Esszimmer erwarte.
Als Ci den Raum betrat, war der Tisch mit dampfenden Reistörtchen, Sauerkrautsalat und mit Gemüse gefüllten Knödeln gedeckt. Ci war überrascht, Feng nicht anzutreffen. Blaue Iris sagte ihm, dass der Richter schon früh zum Kaiserlichen Palast aufgebrochen sei. Ci nippte an seinem Tee. Das Licht quälte seine geschwollenen Augen. Verstohlen beobachtete er die schöne Frau seines Gastgebers. Er musste aus diesem Haus verschwinden.
Nach dem Essen verließ er den Seerosenpavillon, um Mingzu besuchen. Auf halber Strecke traten ihm plötzlich mehrere Soldaten in den Weg. Als Ci eine Erklärung verlangte, schlug ihn der Erste mit einem Bambusstock ins Gesicht, bis er blutete. Dann, ohne ein Wort zu sagen, stürzten sich auch die anderen auf ihn, fesselten ihn an Händen und Füßen und prügelten auf ihn ein. Als der Erste der Truppe verkündete, dass er wegen Konspiration gegen den Kaiser festgenommen war, hatte er bereits die Besinnung verloren.
33
Ci erwachte im Dämmerlicht einer Zelle, umgeben von Dutzenden anderer schmutzstarrender Gefangener. Er verstand nicht, was geschehen war. Jemand tastete seine Kleidung ab, als hätte er einen wertvollen Schatz entdeckt. Ci schüttelte ihn ab wie eine Kakerlake und versuchte sich aufzusetzen. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine Wache auf, packte ihn an der Schulter, riss ihn hoch und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihn erneut zu Boden warf.
»Steh auf !«, befahl er. An seiner Seite stand ein mit einem Stock bewaffneter Riese.
»Er hat gesagt, du sollst aufstehen!« Der Riese ließ seinen Stock auf Ci niedersausen.
Ci gehorchte.Was ging hier vor sich? Warum hatten sie ihn eingesperrt? Er wollte danach fragen, doch beim ersten Wort stieß ihm die Wache das Ende des Stocks in den Magen. Ci krümmte sich und japste nach Luft.
»Und sprich, wenn du gefragt wirst!«
Ci betrachtete den Mann benommen.
»Sag uns, wer dir geholfen hat.«
»Wer mir wobei geholfen hat?«
Ein weiterer Hieb traf ihn im Gesicht.Ci geriet ins Wanken, auf der Zunge hatte er den Geschmack von Blut.
»Du hast die Wahl: Du kannst es uns jetzt erzählen und deine Zähne behalten, oder wir schlagen sie dir ein, und dann kannst du bis zu deiner Hinrichtung Brei essen.«
»Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht! Fragt im Palast nach, ich arbeite für Kan!«, antwortete er verständnislos.
»Du arbeitest für einen Toten?« Ein Fußtritt ließ Ci Blut spucken. »Frag ihn selbst, wenn du in der Hölle angekommen bist.«
Als Ci das nächste Mal aufwachte, säuberte eine Gestalt sorgfältig die Wunden an seinem Kopf. Als sein Blick klar wurde, erkannte er Bo.
»Was … was ist geschehen?«, stammelte er.
Bo schleifte ihn über den Boden zur gegenüberliegenden Mauer, weit weg von den Spionen. Als sie in Sicherheit waren, blickte er Ci ernst an.
»Was geschehen ist? Beim Großen Buddha, Ci! Bei Hof ist von nichts anderem mehr die Rede. Du wirst beschuldigt, Kan umgebracht zu haben!«
Ci blinzelte ungläubig. Der Kaiserliche Berater wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Blut von der Stirn und gab ihm zu trinken. Ci schluckte gierig.
»Sie … sie haben mich geschlagen.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Das Eigenartige ist, dass sie dich nicht umgebracht haben.« Er untersuchte ihn. »Anscheinend hat heute Morgen ein Richter namens Grauer Fuchs Kans Leiche untersucht und festgestellt, dass sein Tod kein Selbstmord war. Er war in Begleitung eines Wahrsagers, der behauptet, dass du bereits einen Fahnder umgebracht hast.« Er schüttelte den Kopf. »Grauer Fuchs hat dichbeschuldigt, doch den Befehl zu deiner Festnahme hat der Kaiser selbst gegeben.«
»Aber das ist lächerlich! Ihr müsst mich hier rausholen. Feng
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