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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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bemerkte Ci Speichelspuren. Die Beine, dick wie Fässer, wiesen kleine Blutungen unter der Haut auf.
    Ci bat darum, auf die Truhe steigen zu dürfen. Mit einem Satz war er oben und stellte fest, dass der Strick aus geflochtenem Hanf bestand. Er hatte sich unter dem Kehlkopf in den Hals des Mannes gegraben. Im Nacken war er zu einembeweglichen Knoten geknüpft. Die Schlinge hatte knapp unter dem Haaransatz einen dunklen Striemen hinterlassen, der von Ohr zu Ohr lief. Sehr zur Verwunderung der Anwesenden stellte Ci einen Stuhl auf die Truhe. Er kletterte hinauf und nahm den Querbalken unter die Lupe, um den das Seil geknotet war. Interessiert begutachtete er die Schlinge und den Dachbalken. Schließlich stieg er von dem Stuhl herunter, versuchte erfolglos, die Truhe zu bewegen, und erklärte seine Untersuchung für beendet.
    Auf Anordnung des Kaisers nahm man den Leichnam ab und beauftragte den Rat der Riten, mit den Vorbereitungen für die Bestattung zu beginnen.
    Zwei Wachen hievten den massigen Toten in die Höhe, während ein Dritter die Schlinge löste. Sie legten den Leichnam auf den Boden, Ci nutzte diesen Augenblick, um den Brustkorb abzutasten. Die Richter warfen ihm schiefe Blicke zu, vergaßen ihn jedoch im nächsten Moment, weil Bo auf demselben Tischchen, auf dem auch Kans perfekt zusammengelegte Kleidung lag, eine handgeschriebene Notiz fand. Der Kaiserliche Berater überflog die Zeilen und reichte sie Nin Zong.
    Die Hände des Kaisers zitterten, während er las. Mit Zornesröte im Gesicht zerknüllte er das Papier, als er geendet hatte. Niemand wagte aufzublicken. Schließlich warf Nin Zong die Notiz in Bos Richtung und widerrief seine soeben erteilte Anweisung. Stattdessen ordnete er an, auf jeglichen Akt der Kondolenz zu verzichten. Es werde keine öffentliche Beerdigungszeremonie geben, der Leichnam solle auf einem beliebigen Friedhof beigesetzt werden.
    Ein ungläubiges Raunen ging durch den Raum. Während die Richter und die Wachen sich beeilten, dem Kaiser hinauszufolgen, reichte Bo Ci die Notiz. Ci faltete sie ängstlichauseinander und begann zu lesen. In wenigen Zeilen gestand Kan, der Schuldige an den brutalen Verbrechen zu sein, die den Hof seit einiger Zeit in Atem hielten. Er habe sie mit dem einzigen Ziel verübt, sich an Blaue Iris zu rächen. Darunter hatte er sein Siegel gesetzt.
    Fassungslos ließ Ci sich mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten. Er konnte es nicht glauben. Der Strafrat erklärte sich für schuldig, und damit hatte alles ein Ende. Es gab nichts weiter zu untersuchen.
    Er blieb sitzen, bis Bo ihn aufforderte, sich wieder zu erheben. Abwesend gab er Bo den Brief zurück, verabschiedete sich von ihm und ging mit gesenktem Kopf in Richtung der Gärten.
    Nach diesem Schuldgeständnis Kans konnte er vom Kaiser den versprochenen Posten verlangen und eine juristische Karriere am Hof beginnen. Ming würde wieder frei sein, Blaue Iris rehabilitiert werden, Feng würde ihn gegen jede Anklage abschirmen, die Grauer Fuchs gegen ihn vorbringen konnte – kurzum, seine Träume könnten wahr werden. Doch eine düstere Ahnung beschlich ihn, während er zwischen den Weiden umherwanderte. Er war sich beinahe sicher, dass es sich bei Kans Tod nicht um Selbstmord handelte, sondern um ein weiteres Verbrechen.
    * * *
    Er stieg die kleine Treppe zum Seerosenpavillon hinauf, um seine Sachen zu packen. Er war entschlossen, dem Palast den Rücken zu kehren, sobald Ming offiziell freigelassen wurde. Es kümmerte ihn nicht, was später mit dem Kaiser geschah. Sie hatten ihn gezwungen, zu ermitteln, sie hatten ihn bedroht und erpresst, hatten versucht ihn umzubringen, hattenMing verhaftet … Was konnten sie noch von ihm verlangen? Sie hatten den Schuldigen, den sie suchten, und der hatte seine Schuld bezahlt.
    Er würde nie mehr erfahren, ob Blaue Iris in die Morde verwickelt war oder nicht. Er wünschte, sie wäre es nicht, doch letztlich machte es auch keinen Unterschied mehr, denn er würde Lin’an verlassen und sie nicht wiedersehen. Er hatte die Dummheit begangen, sich in eine Frau zu verlieben, von der er wusste, dass sie für ihn verboten war. Und was noch schlimmer war, er hatte damit das Vertrauen des Mannes missbraucht, der sich wie ein zweiter Vater um ihn kümmerte. Er verwünschte die Nacht, in der er Blaue Iris kennengelernt hatte. Und doch spürte er auf seinen Lippen noch die Erinnerung an ihre Küsse.
    Als er seine Kleidung zusammengelegt hatte, hielt er einen Moment

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