Der Totenleser
des Strafrats gewarnt hatte.
Er musste mit Nin Zong selbst sprechen.
* * *
Aufgeregt stürzte Ci in das Arbeitszimmer des Kaiserlichen Beraters.
»Ich wünsche eine Audienz beim Kaiser, sofort!«, platzte er heraus.
Bo sah ihn verständnislos an.
»Wieso sollte er dir eine Audienz gewähren? Davon abgesehen gibt es ein Protokoll, das wir alle respektieren müssen. Wenn wir das nicht tun, werden wir im besten Falle ausgepeitscht«, sagte er.
Ci sagte Bo, dass er einen dringenden Verdacht habe, wer die Morde begangen haben könnte, und dass er darum weder mit Kan sprechen noch weitere Zeit verstreichen lassen durfte.
»Und falls man Euch beschuldigt, werde ich alles auf mich nehmen.«
»Man hat mich unter anderem als deinen Begleiter abgestellt, um derlei Ansinnen zu vermeiden«, sagte Bo und schüttelte den Kopf.
»Habt Ihr vergessen, was in dem Lagerraum geschehen ist? Wenn Ihr mir nicht helft, könnte es vielleicht morgen schon zu spät sein … Es gibt jemanden, der um jeden Preis verhindern will, dass ich die Mordfälle aufkläre!«
Bo sah Ci durchdringend an. Dann erhob er sich und verließ wortlos den Raum. Es verging eine Weile, die Ci vorkam wie eine Ewigkeit, bis er zurückkam.
»Seine ehrenwerte Majestät wird dich im Thronsaal empfangen«, sagte er ernst. Er zündete ein Räucherstäbchen von der Größe eines Fingernagels an und gab es Ci. »Du kannst sprechen, solange es brennt. Keinen Atemzug länger«, warnte er ihn.
Ci folgte ihm bis zu dem prächtigen Thronsaal. Nervös hielt er das Räucherstäbchen im Blick, das bereits drohte,seinen Daumen zu verbrennen. Plötzlich trat Bo zur Seite, und Ci stand vor dem Kaiser.
Die Goldbesätze der kaiserlichen Robe blendeten Ci so sehr, dass er das brennende Stäbchen beinahe fallen ließ. Hastig kniete er sich nieder, um den Boden zu küssen. Und als seine Majestät ihm endlich das Wort erteilte, berichtete er überstürzt von seinen Verdächtigungen gegen Kan, und dass der ehrenwerte Strafrat offenbar versuchte, von sich selbst auf Blaue Iris abzulenken.
Der Kaiser hörte ihn schweigend und mit unbewegter Miene an.
»Einen meiner treuesten Männer, einen Kaiserlichen Rat, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde, der Ehrlosigkeit zu beschuldigen, ist ein Affront, der mit dem Tode bestraft wird, sollte er sich als gegenstandslos erweisen«, sagte Nin Zong streng.
»Ja, Eure Majestät, ich weiß.« Ci zitterte, während seine Fingerkuppen langsam verbrannten.
»Wenn ich anordne, dass Kan hergebracht wird, und er dann deine Anschuldigungen zu entkräften weiß, sehe ich mich gezwungen, dich hinrichten zu lassen. Wenn du die Sache hingegen noch einmal überdenkst und deine Anschuldigung zurückziehst, werde ich gnädig sein und deine Kühnheit vergessen. Also, sag mir: Willst du deine Anklage aufrechterhalten?«
Ci atmete tief durch.
»Ja, Majestät.« Die Flamme in seiner Hand erlosch.
Im selben Moment stürzte ein Kaiserlicher Beamter herein. Kreidebleich warf er sich dem Kaiser zu Füßen.
»Majestät, es ist etwas Furchtbares passiert. Kan hat sich in seinen Gemächern erhängt!«
SECHSTER TEIL
32
Kaum hatte der bestürzte Mann geendet, befahl Nin Zong, sämtliche Kaiserlichen Richter zusammenzurufen. Sobald alle beisammen waren, brach der Kaiser mit ihnen und einer Eskorte von Wachen zu den Gemächern des toten Strafrats auf. Ci begleitete den Zug, mit Nin Zongs Erlaubnis.
Auf der Türschwelle blieb der Kaiser stehen. Entsetzt hielten auch seine Männer inne. Vor ihnen hing wie ein dicker Sack der nackte Leichnam Kans. Sein aufgequollenes Gesicht sah aus wie das einer zerplatzten Kröte. Zu seinen Füßen stand eine große Truhe. Nin Zong befahl, den Leichnam sofort loszubinden, doch die Richter beharrten einstimmig auf der Notwendigkeit, zunächst einige Untersuchungen durchzuführen. Ci verfolgte ihre Arbeit aus einiger Entfernung. Während die Richter das Aussehen des Opfers kommentierten, registrierte Ci die Stellung und die Anzahl der Möbelstücke im Raum und fertigte eine Skizze davon an in dem Büchlein, das er stets bei sich trug. Als man ihm schließlich erlaubte, den Leichnam zu untersuchen, zitterte er, als wäre es sein erstes Mal.
Ci besah sich den Kopf des Toten, der zur linken Seite herabhing. Sein gesundes Auge war geschlossen, und die Lippen waren schwarz verfärbt. Der Mund stand leicht offen, die Zunge war gegen die Zähne gedrückt. Das Gesicht war blau angelaufen und in den Mundwinkeln sowie auf der Brust
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