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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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unschlüssig inne. Was sollte er mit der Gussform und dem Abdruck machen, die er versteckt hatte? Er hob die Bodendiele an, zog das Gipszepter hervor und legte es auf das Bett. Dann ging er zu dem Schrank hinüber, in dem er die Form versteckt hatte, doch zu seinem Erstaunen fand er sie nicht. Jemand hatte sie gestohlen. Ihn überlief ein kalter Schauer.
    Er versuchte sich damit zu beschwichtigen, dass das Verschwinden der Form vielleicht das Beste war, was ihm passieren konnte. Denn wenn es bei dem Anschlag im Lagerraum um dieses Stück Terrakotta gegangen war, war doch die wirksamste Garantie, dass man ihn fortan in Ruhe ließ, dass es nicht mehr in seinem Besitz war.
    Nachdem Ci sein Gepäck verschnürt hatte, nahm er den Gipsabguss in die Hand und betrachtete ihn genauer. Er fragte sich, ob es sich statt um ein Zepter nicht um eine Flöte handelte.
    Er schüttelte den Kopf. Warum machte er sich darüber überhaupt noch Gedanken? Dennoch mochte er das Stück nicht einfach dalassen, vielleicht brauchte er es doch noch mal als Beweis … Er verstaute es zwischen seinen Kleidungsstücken und überlegte, wo er es später verstecken könnte. Dabei rieb er sich den Nacken und spürte die Kette unter seinen Fingern, an der der Schlüssel zu Mings Geheimfach hing. Den hatte er vollkommen vergessen – das war die Lösung!
    Mit seinem Gepäck verließ er das Zimmer. In der Tür zum Salon sah er Blaue Iris stehen. Er musste schlucken. Ihre Schönheit versetzte ihm einen Stich. Als er an ihr vorüberging, war er kurz davor, ihr zu erklären, warum er fortmusste, doch seiner Kehle entrang sich nur ein verschämter Abschiedsgruß.
    Er bat Bo, ihn zur Akademie zu begleiten, da er Schwierigkeiten an der Mauer vermeiden wollte. Gemeinsam verließen sie die Palastanlage, ohne registriert zu werden.
    Als sie an der Akademie ankamen, fragte Ci nach Sui, dem Diener Mings. Der Gärtner, der sie empfangen hatte, verschwand für einen Moment und kehrte kurz darauf in Begleitung eines Mannes im mittleren Alter zurück, der Ci durch seine buschigen Augenbrauen hindurch erstaunt anschaute. Ci zeigte ihm den Schlüssel.
    »Ist der Meister …?«
    Ci schüttelte den Kopf. Meister Ming werde bald wieder auf den Beinen sein, aber er habe ihn beauftragt, ein Buch aus seiner Bibliothek zu holen, das er während seiner Genesung lesen wollte. Der Diener nickte und bedeutete Ci, ihm zu folgen. Bo wartete im Garten.
    Im Arbeitszimmer des Professors steuerte Sui zielstrebig ein Regal an und zog einige Bücher vor, die eine Klappeaus Mahagoni verdeckten. Ci wartete darauf, dass der Diener zurücktrat, doch Sui rührte sich nicht.
    Die unerwartete Situation zwang Ci dazu, seinen Plan zu ändern, und er musste es schnell tun, sonst würde Sui Verdacht schöpfen. Er steckte den Schlüssel in das Schloss der Mahagoniklappe. Dahinter verbarg sich ein bis obenhin gefülltes Fach. Ci fluchte innerlich, als ihm klar wurde, dass der Abguss nicht hineinpassen würde. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er die Buchrücken studierte, die sich in dem Versteck stapelten. Plötzlich blieb sein Blick an einem Werk hängen, das sein Interesse weckte. Es war ein Manuskript mit dem Titel Ingmingji , »Analyse juristischer Prozesse«, und die Handschrift gehörte niemand Geringerem als Ming. Er zog es heraus, um Sui nicht misstrauisch zu machen, und rief erfreut, dass Ming ihn um ebendiese Schrift gebeten hatte. Die Frage des Verstecks für den Gipsabguss hatte er allerdings noch nicht gelöst.
    »Was ist?«, fragte der Diener schließlich.
    Ci zögerte. Schließlich gab er ihm das Zepter und ein Säckchen mit Münzen.
    »Du musst mir einen Gefallen tun. Du musst es für Ming tun.«
    * * *
    Ci kehrte mit der einzigen Absicht in den Palast zurück, seinen Meister zu befreien. Bo wollte sich dafür einsetzen, die Formalitäten zu beschleunigen, doch die Posten, die Mings Tür bewachten, ließen nicht mit sich reden.
    Als er mit dem Meister allein war, versuchte Ci, ihm Mut zuzusprechen. Seine Beine heilten gut, und das Blut sei wieder in seine Wangen zurückgekehrt. In wenigen Tagen schonkönne er wieder aufstehen und seinen Pflichten nachgehen. Bis dahin mache es keinen Unterschied, ob er sich in der Akademie auskurierte oder im Palast. Ming seufzte. Doch als Ci ihn über die Umstände von Kans Selbstmord in Kenntnis setzte, kehrte die Blässe in sein Gesicht zurück.
    »Was verschweigst du mir?«, fragte Ming besorgt.
    Ci warf einen Blick auf die Wachen. Sie schienen

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