Der Totenleser
Dein Vater verlor vollkommen die Nerven. Er drohte daraufhin, mich anzuzeigen, und schließlich tat ich, was ich schon lange zuvor hätte tun sollen. Ich musste die Kopie des Dokuments an mich bringen, das mich belastete, doch er weigerte sich, sie mir auszuhändigen, so dass mir keine Wahl blieb. Das Haus zu sprengen, um seine Verletzungen zu verschleiern, ist mir erst später eingefallen, als ich das Grollen des Donners hörte.«
Ekel. Das war es, was Ci empfand. Ekel, der ihm die Zunge lähmte. Darum also hatte sein Bruder eine andere Sichel mitgenommen, er hatte seine eigene nicht gefunden. Das war ihm damals nicht seltsam vorgekommen, denn es schien logisch, dass der Mörder sich der Tatwaffe entledigt hatte.
»Komm schon, Ci. Hast du ernsthaft gedacht, dass es einverirrter Blitz war, der deine Eltern erledigt hat? Beim Großen Buddha!«
Feng verlor sich in aufgeregten und geschwätzigen Ausführungen, denen Ci nur mit Bestürzung folgen konnte.
»Deine Familie …«, sagte er verächtlich. »Was haben die denn für dich getan? Dein Bruder war ein Wilder, der dich prügelte, und dein Vater ein Hasenfuß, der nicht in der Lage war, seine Töchter zu retten und für die Ausbildung seines Sohnes zu sorgen. Und noch immer betrauerst du ihren Verlust? Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich von ihnen befreit habe.« Feng stand auf und begann auf und ab zu gehen. »Du vergisst,dass ich es war,der dich aus der Gosse geholt hat, der dich ausgebildet hat,der dich zu dem gemacht hat,was du bist.Undankbarer Hund!«,klagte Feng.»Du warst der einzige Hoffnungsschimmer in dieser Familie.Und jetzt,da du zu mir zurückgekehrt bist, dachte ich, wir könnten glücklich sein. Du, ich und meine Frau. Iris. Blaue Iris.« Als er den Namen der Frau aussprach, wurde sein Gesicht weich. »Euch beide habe ich zu Menschen gemacht. Wir gehören zusammen …«
Entgeistert sah Ci den alten Richter an. Was konnte er diesem Irrsinn entgegensetzen? Nichts, was er zu sagen hätte, würde den Richter wieder zu Verstand kommen lassen.
»Aber noch kann alles gut werden«, setzte Feng seinen entsetzlichen Monolog fort. »Vergiss, was passiert ist. Ich biete dir eine Zukunft. Was willst du? Reichtum? Mit uns wirst du ihn erlangen. Ein Studium? Natürlich, das ist es, was du immer wolltest. Du wirst es bekommen! Ich werde dafür sorgen, dass sie dich an der Universität zulassen und dir den besten Posten in der Administration verschaffen.Verstehst du nicht? Begreifst du nicht, was ich für dich tun könnte? War-um, glaubst du, erzähle ich dir das alles? Noch können wir wieder eine Familie sein. Du, ich und Blaue Iris.«
Ci blickte Feng voller Abscheu an.
»Verschwindet!«
»Aber was sagst du da?«, fragte Feng überrascht. »Glaubst du vielleicht, du hättest eine Alternative?« Er lachte. »Du Ahnungsloser! Glaubst du wirklich, ich wäre so dumm, dir mein Herz zu öffnen, wenn du ohne mich hier herauskämst?«
»Ich brauche Euch nicht«, zischte Ci.
»Ach nein? Und was willst du denen da draußen erzählen? Dass ich Kan ermordet habe? Dass ich deine Eltern ermordet habe? Bei allen Göttern, Junge. Du musst ziemlich dumm sein, wenn du denkst, dass jemand dir Glauben schenken wird. Du bist ein Nichts, so gut wie zum Tode verurteilt, ein Verzweifelter, der alles tun würde, um seinem Schicksal zu entkommen. Die Wärter werden bestätigen, dass du versucht hast, mich umzubringen.«
»Ich habe … Beweise.« Ci gelang es kaum, einen ganzen Satz zu formulieren.
»Ach ja?« Feng zog den Gipsabguss aus seinem Beutel. »Du meinst doch nicht das hier …« Er hielt ihm das Modell der Handkanone vor die Nase, das er in der Ming-Akademie abgeholt hatte. »Ist es das, was dich retten sollte?« Er schleuderte den Abguss zu Boden, dass er in tausend Scherben zersprang.
Ci schloss die Augen, er wollte dieses Ungeheuer nicht länger ansehen müssen. Er wollte ihn umbringen.
»Was wirst du jetzt tun? Um Gnade winseln, wie es deine Eltern getan haben, damit ich dich am Leben ließ?«
Ci riss verzweifelt an den Ketten.
»Du bist erbärmlich!«, fauchte Feng. »Hältst du mich wirklich für so dumm, dass ich zulasse, dass du mich zerstörst? Ich kann dich zu Tode foltern, und niemand wird dir zu Hilfe eilen.«
»Und worauf wartet Ihr noch? Tut es doch!«, stieß Ci hervor.
»Damit man mich verurteilt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich vergaß, wie schlau du bist.«
Er drehte sich um und rief nach der Wache.
Der Wachmann betrat die Zelle, einen
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