Der Totenleser
Bambusstab in der einen, eine Zange in der anderen Hand.
»Weißt du, manchmal verlieren die Angeklagten auch ihre Zunge und können sich dann nicht mehr verteidigen«, sagte Feng im Hinausgehen wie beiläufig.
Beim ersten Stockhieb krümmte sich Ci so zusammen, dass der zweite ihn auf den Schultern traf. Der Henker lächelte und krempelte die Ärmel auf.
Ci wusste, dass der Folterknecht alles tun würde, um sich seinen Lohn zu verdienen. Er kannte die Prozedur: Zuerst würden sie ihn auspeitschen, bis sie müde wurden. Dann würden sie ihn zwingen, ein Geständnis zu unterschreiben, und wenn sie das erreicht hatten, würden sie ihm die Finger brechen und ihm die Zunge herausschneiden, damit er für immer schwieg. Er dachte an seine Familie und an den schrecklichen Tod, der ihm bevorstand. Der Gedanke, dass es ihm nicht gelingen könnte,sie zu rächen,ließ ihn verzweifeln.
Die folgenden Hiebe verstärkten sein Gefühl der Ohnmacht, und der Lappen, den sie ihm in den Mund gesteckt hatten, erschwerte ihm zunehmend das Atmen. Langsam trübte sich sein Blick, und das Bild seiner toten Eltern schien immer deutlicher vor seinen Augen auf. Ihre Geister raunten ihm zu, er solle kämpfen. Doch er spürte, wie die Kräfte ihn verließen. Er dachte daran, einfach zu gehen und dieser unnützen Folter ein Ende zu bereiten, allein der Geist seines Vaters ließ ihn widerstehen. Er musste die Folter beenden,bevor ihm der Scherge den tödlichen Schlag verpasste. Er strampelte und keuchte, bis der Folterer ihn von seinem Knebel befreite. Endlich konnte er wieder atmen.
»Ich gestehe«, keuchte er.
Der Folterknecht ließ einen letzten kräftigen Schlag auf ihn niedersausen, so als beraube ihn diese plötzliche Entscheidung eines wohlverdienten Vergnügens. Dann löste er die Ketten, die Cis Handgelenke fesselten, und hielt ihm das Geständnis vor die Nase. Ci griff nach dem Pinsel und setzte mit zitternden Händen etwas Ähnliches wie seine Unterschrift unter das Dokument. Vom Pinsel tropfte eine Mischung aus Tinte und Blut auf das Papier.
»Das wird genügen«, brummte der Scherge. Er reichte das Dokument einem anderen Wachmann, damit er es Feng überbrachte, und griff nach der Zange. »Jetzt schauen wir uns mal diese Finger an.«
Ci konnte einen entsetzten Schrei nicht unterdrücken. Der Folterknecht hielt sein rechtes Handgelenk fest und klemmte den Daumennagel mit der Zange ein. Dann drückte er mit aller Kraft und riss den Nagel aus seinem Bett. Ci verzog kaum eine Miene, und der Folterknecht machte ein unzufriedenes Gesicht. Er wollte die Operation gerade mit dem nächsten Nagel wiederholen, doch anstatt die Zange zu sich heranzuziehen, riss er den Nagel diesmal nach oben weg. Ci protestierte kaum.
Verärgert über die Passivität des Angeklagten, schüttelte der Folterknecht den Kopf.
»Wenn du deine Zunge sowieso nicht benutzt, um dich zu beschweren, sollten wir dich besser gleich von ihr befreien«, grollte er.
Ci zappelte. Er war in den Ketten gefangen, doch der Geist seines Vaters spornte ihn an.
»Hast du schon mal eine Zunge ausgerissen?«, brachte Ci hervor.
Der Scherge sah ihn mit künstlichem Erstaunen an. »Sieh mal einer an, du kannst ja doch sprechen.«
Ci versuchte ein Lächeln, doch er spuckte nur blutigen Schleim.
»Wenn du es tust, wirst du mir auch die Venen herausreißen. Dann verblute ich wie ein Schwein, und du wirst nicht verhindern können, dass ich sterbe.« Er japste nach Luft. »Weißt du, was mit denen geschieht, die einen Gefangenen vor seiner Verurteilung töten?«
»Spar dir dein Gequatsche«, gab der Scherge zurück, doch er legte die Zange aus der Hand. Die Aussicht auf seine eigene Hinrichtung schien ihn zögern zu lassen.
»Du bist so dumm, dass du gar nichts merkst. Was glaubst du, warum Feng gegangen ist? Er weiß, was mit mir geschehen wird, und er will keine Schuld auf sich laden.«
»Ich habe gesagt, du sollst still sein!«
Ci krümmte sich unter einem Faustschlag in den Magen zusammen.
»Wo sind die Ärzte, die die Blutung stillen?«, fuhr Ci ächzend fort. »Wenn du Feng gehorchst, werde ich verbluten. Er wird später leugnen, den Befehl gegeben zu haben. Er wird sagen, dass es deine eigene Entscheidung war, und du hast dein Schicksal besiegelt. Es gibt weit und breit keinen Zeugen, der deine Unschuld bestätigen könnte.«
Der Folterknecht schien Cis Worte ernsthaft abzuwägen.
»Wenn ich nicht gehorche,werde ich …« Er griff entschlossen nach der Zange.
Ci
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