Der Totenleser
Zong ließ sich nicht rühren: Er ordnete die Festnahme des Wahrsagers an und unterbrach die Verhandlung bis zum Nachmittag.
* * *
Als die Verhandlung fortgesetzt wurde, betrat Grauer Fuchs den Saal wie ein verwundetes Raubtier, das beweisen wollte, dass es noch immer in der Lage war, seinen Angreifer zu zerreißen. Doch auch eine Frau war plötzlich zugegen: Blaue Iris.
Nachdem er die Erlaubnis zum Sprechen erhalten hatte, wagte Grauer Fuchs einen Vorstoß.
»Göttlicher Herrscher, die Tatsache, dass der verwerfliche Xu versucht hat, unseren guten Glauben zu missbrauchen, spricht den Angeklagten Ci nicht von dem Verbrechen frei, das ihm zur Last gelegt wird. Im Gegenteil, seine Schuldigkeit an nur einem Mordfall wird die Verurteilung vereinfachen.« Er baute sich vor Ci auf. »Es ist offensichtlich, dass der Angeklagte einen dämonischen Plan ausgeheckt hat, um das Leben von Strafrat Kan zu beenden, den er dann akribisch in die Tat umsetzte und als einen schlichten Selbstmord zu tarnen versuchte. Das, und kein anderes, ist das wahre Gesicht von Song Ci. Dem Freund der Homosexuellen. Dem Justizflüchtling. Dem Komplizen der Mörder.«
Es war nicht auszumachen, wie Nin Zong diese Worte aufnahm.Er zeigte die Emotionalität einer Statue. Dann erteilte er, wie es die Regeln des Protokolls vorschrieben, Ci das Wort, damit er seine Verteidigung fortführen könne.
»Majestät«, begann der Angeklagte. »Obwohl ich es bereits in meiner ersten Ausführung gesagt habe, erlaube ich mir zu wiederholen, dass ich niemals vorhatte, in Kans Dienste zu treten, und dass Ihr selbst mir befahlt, an den Untersuchungen zu den Morden mitzuwirken, die dem Tod Kans vorausgingen. Des Weiteren möchte ich eine Tatsache hervorheben, die in allen juristischen Handbüchern wiederholt wird: Damit es ein Verbrechen geben kann, braucht es ein Motiv, das den Mörder antreibt. Egal, ob es sich um Rache, Raserei, Hass oder Ehrgeiz handelt. Doch wenn es kein Motiv gibt, stehen wir so hilflos vor dem Verbrechen wie ich vor dieser falschen Beschuldigung. In diesem Sinne frage ich mich, warum ich Kan hätte töten wollen. Damit man mir den Prozess macht und mich hinrichtet? Erinnert Euch, dass Ihr mir im Falle eines Erfolgs einen Posten in der Justiz zugesichert hattet. Sagt mir also«, bei diesen Worten wandte er sich Grauer Fuchs zu, »würde ein Hungernder den einzigen Apfelbaum in seinem Garten fällen?«
Der Graue lächelte mitleidig.
»Behalte deine groben Wortklaubereien für dich, die höchstens für Studenten taugen, uns verwirren sie nicht. Du sprichst von Motiven? Von Rache, Raserei, Hass und Ehrgeiz? Gut, reden wir davon«, hielt Grauer Fuchs ihm entgegen. »Nach allem, was du gesagt hast, ist nur eines sicher: dass der Kaiser dir einen Posten in der Justiz angeboten hat, wenn du den Täter findest.« Er machte eine Pause. »Und, hast du ihn gefunden? Mir ist nichts dergleichen zu Ohren gekommen.« Er sah siegesbewusst zu Ci hinüber. »Du hast den Hass und die Rache erwähnt, ohne jedoch zu sagen, dassgenau das die Gefühle waren, die Kan in dir weckte, als er damit drohte, deinen geliebten Professor zu töten. Du hast von Raserei gesprochen, doch dabei vergessen, dass du sie Tage vor dem Mord, als du das Messer in den Leichnam des Eunuchen rammtest, selbst an den Tag gelegt hast. Und zuletzt hast du den Ehrgeiz angeführt, dabei jedoch ausgespart, dass du dir mit dem Selbstmord Kans und seinem bequemen Schuldgeständnis die versprochene Belohnung des Kaisers sichern konntest. Ich weiß nicht, was die Anwesenden denken, aber ich finde, dass dein dramatischer Vergleich mit einem Gärtner, der einen Baum fällt, überzeugender wäre, wenn wir ihn durch einen Hungernden ersetzten, der fleischgierig seine einzige Kuh schlachtet, anstatt sich damit zufriedenzugeben, ihre Milch zu trinken. Und wo du schon von juristischen Schriften sprichst, ein anderes wesentliches Element, das allen Mordfällen zugrunde liegt, ist die Gelegenheit. Also sage uns, Ci: Wo warst du in der Nacht, in der Strafrat Kan starb?«
Ci spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er sah in die Richtung, in der Fengs Frau saß. In der Nacht, in der man Kan ermordet hatte, war er mit Blaue Iris zusammen gewesen.
Doch er gab an, die Nacht allein verbracht zu haben, eine Antwort, die niemanden im Saal zufriedenstellte. Er wusste, dass Grauer Fuchs versuchen würde, diesen Vorteil zu nutzen, und versuchte ihm zuvorzukommen.
»Eure Argumente erwecken den Eindruck von
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