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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben.
    »Das solltest du lieber lassen«, donnerte in diesem Augenblick eine Stimme vor der Zelle. »Los, mach auf !«
    Es war Bo, er war in Begleitung von zwei Wachen gekommen und befahl dem Schergen, zur Seite zu treten. Er hielt Ci ein Riechsalzfläschchen unter die Nase.
    »Los, Junge, komm zu dir! Die Verhandlung beginnt gleich«, drängte er.
    Mühsam rappelte sich Ci hoch und verließ, gestützt von Bo, seinen Kerker.
    Auf dem Weg zum Gerichtssaal informierte Bo ihn eilig über das, was er herausbekommen hatte. Doch Ci konnte kaum folgen. Bevor sie den Saal betraten, gab Bo ihm saubere Kleidung und ein Tuch, mit dem er sich das Blut aus dem Gesicht wischen sollte.
    »Sei bedächtig und versuche, Charakterfestigkeit zu demonstrieren. Und denke daran, es ist dasselbe, ob du einen Richter des Hofes anklagst oder den Kaiser selbst«, warnte Bo.
    Als die Soldaten Ci vor dem Thron zu Boden stießen, entfuhr selbst dem Kaiser ein Ausruf des Erstaunens. Der Folterknecht hat Ci übel zugerichtet, es gelang dem Angeklagten kaum, durch seine geschwollenen Augen in den Saal zu blicken.
    Bo stellte sich nur wenige Schritte von Ci entfernt auf, ohne sich auch nur eine Sekunde von der Ledertasche zu trennen, die er über der Schulter trug. Der Kaiser winkte einem Diener, damit er den Gong schlug, der die Fortsetzung der Verhandlung ankündigte.
    Feng war der Erste, der das Wort ergriff. Er trug seine alte Richterrobe und die Kappe, die ihn als Mitglied der Anklage auswies. Die Bestie hatte beschlossen, ihre Krallen auszufahren. Er trat vor Ci und begann.
    »Vielleicht haben einige von Euch schon einmal die Enttäuschung gespürt, wenn sich ein Partner als skrupellosherausstellt, die Frau Ehebruch begeht und einen für den reicheren Verehrer verlässt, oder wenn ein anderer ungerechterweise einen Posten bekommt, der einem selbst zustünde.« Feng wandte sich an die Versammelten. »Doch ich kann versichern, dass keine dieser Situationen an den Schmerz und die Bitterkeit heranreicht, die in diesem Augenblick in meinem Herzen tobt. Dort auf dem Boden vor dem Kaiser kniet, in vorgetäuschtem Leid, der schlimmste aller Betrüger, der undankbarste und hinterhältigste Mensch, der mir je begegnet ist. Ein Angeklagter, den ich noch bis gestern in meinem Heim beherbergt und wie meinen eigenen Sohn behandelt habe. Ein Junge, den ich ausgebildet und genährt habe, um den ich mich gekümmert habe wie um einen jungen Welpen. Ein Junge, in den ich alle Hoffnungen eines kinderlosen Vaters setzte. Ich war untröstlich, als ich heute entdecken musste, dass sich unter diesem Schafspelz eine der verräterischsten und mordlustigsten Kreaturen verbirgt, die man sich nur vorstellen kann. Nachdem ich alle Beweise kenne, sehe ich mich gezwungen, mein Unglück anzuerkennen, ihn zu verstoßen und die Anklage von Grauer Fuchs zu unterstützen. Sosehr mein Herz auch dabei schmerzte, ich hatte keine Wahl, ich musste der Folter zustimmen, damit er seine Verbrechen gestand. Von ihm«, er deutete mit einer dramatischen Geste auf Ci, »der mich eines Tages in Ehren beerben sollte, musste ich das Schlimmste vernehmen, das es für einen Vater überhaupt geben kann.« Er hielt das Geständnis dem Kaiser hin. »Leider hat der Schicksalsgott beschlossen, uns das Spektakel seiner Lügen vorzuenthalten, denn er ließ zu, dass der Angeklagte sich in all seiner Feigheit die Zunge herausriss. Ein Vorfall, der mir jedoch nicht verbieten wird, die Gerechtigkeit zu fordern für das, was der Verabscheuungswürdige mir mit dieser Entehrung angetan hat.«
    Der Kaiser las die Erklärung sorgfältig durch, in der Ci nicht nur seine Täterschaft an den Verbrechen zugab, sondern auch die niederen Motive, die ihn dabei getrieben hatten. Angewidert reichte er sie dem ältesten Würdenträger, der alle Geständnisse verwaltete. Dann erhob er sich und wandte sich mit steinerner Miene an den Angeklagten.
    »Nachdem das Geständnis nun vorliegt, und da der Angeklagte keine Möglichkeit hat, dem Weiteres hinzuzufügen, sehe ich mich gezwungen …«
    »Das ist nicht meine Unterschrift«, unterbrach ihn Ci, nachdem er Blut gespuckt hatte.
    Ein erstauntes Gemurmel breitete sich im Saal aus. Feng fuhr zitternd von seinem Stuhl auf.
    »Das ist nicht meine Unterschrift«, wiederholte Ci.
    »Majestät! Der Angeklagte hat bereits gestanden!«, rief er.
    »Seid still!«, donnerte Nin Zong. »Ich möchte den Angeklagten anhören. Jeder hat das Recht auf

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