Der Totenleser
Panik. Sie sind so vage und unverhältnismäßig, dass Ihr damit die Hälfte aller hier Versammelten anklagen könntet. Doch was macht das schon, wenn es Euch einzig und allein darum geht, Euer Ziel zu erreichen? Ihr wisst ebenso gut wie ich, dass Kan ein gefürchteter und vielgehasster Mann war, so dass es hier beiHofe sicher Dutzende von Kandidaten mit besseren Motiven gibt als denen, die Ihr mir andichtet. Aber antwortet mir auf diese einfache Frage.« Ci machte eine lange Pause. »Welcher absurde Grund würde einen Mörder dazu treiben, sein eigenes Verbrechen ans Licht zu bringen? Oder noch einfacher: Wäre ich der Mörder gewesen, warum hätte ich dem Kaiser dann als Erster enthüllt, dass der Selbstmord Kans in Wirklichkeit ein Mord war?«
Ci war überzeugt,ein unschlagbares Argument vorgebracht zu haben. Doch der Kaiser zog eine Augenbraue hoch und betrachtete ihn geringschätzig.
»Du hast mir gar nichts enthüllt«, tadelte Nin Zong. »Derjenige, der den Mord am Strafrat festgestellt hat, war Grauer Fuchs.«
Ci musste schlucken. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Als er Fengs scheinheiliges Lächeln bemerkte, begriff er: Nicht dem Kaiser hatte Feng von seinen Entdeckungen erzählt. Sondern dem Grauen.
Schließlich vertagte der Kaiser den Prozess auf den nächsten Morgen, die abendlichen Rituale erforderten seine Anwesenheit. Man führte Ci in den Kerker ab.
* * *
Kaum hatte man Ci in dem dunklen Verlies eingesperrt, tauchte Feng auf. Er gab der Wache ein Zeichen, dass sie hinter den Gitterstäben warten sollte, während er mit dem Angeklagten sprach. Er stellte einen Teller Suppe vor Ci hin. Ci hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen, doch er rührte den Teller nicht an.
»Warum isst du nichts? Hier, nimm, du bist sicher am Verhungern«, sagte Feng.
Ci stieß den Teller wütend von sich. Feng fuhr zurück und betrachtete Ci, wie ein resignierter Vater ein Neugeborenes, das gerade erbrochen hat.
»Du solltest dich beruhigen«, sagte er tadelnd. »Ich verstehe, dass du wütend bist, aber noch ist nichts verloren.« Er setzte sich wieder neben Ci. »Die Sache ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen.«
Ci sah ihn nicht an. Wie hatte er diesem Verräter einmal vertrauen können? Wäre er nicht angekettet, er würde ihn mit bloßen Händen erwürgen.
»Ich verstehe, dass du nicht reden willst«, fuhr Feng fort. »Doch es ist nicht der rechte Augenblick für falschen Stolz. Du kannst weiter stumm bleiben und warten, bis Grauer Fuchs dich in deine Einzelteile zerlegt, oder meinen Vorschlag anhören und deine Haut retten.« Er bat die Wache um einen neuen Teller Suppe, doch Ci fiel ihm ins Wort.
»Esst Ihr sie, verfluchter Bastard!«, fauchte er.
»Oho, wie es scheint, bist du doch noch im Besitz deiner Zunge!« Er tat überrascht. »Beim alten Konfuzius, Ci, hör mich an. Es gibt Dinge, deren Tragweite du nicht erahnen kannst. Bei dieser Verhandlung geht es nicht nur um dich. Vergiss sie. Vertrau mir, und ich werde dich schützen. Kan ist tot. Was macht es für einen Unterschied, ob er ermordet wurde oder sich selbst umbrachte? Sei vernünftig und versuch nicht, dich in einem Kampf zu behaupten, den du nicht gewinnen kannst.«
»Es geht nicht um mich? Wen haben sie denn eingesperrt, und wem haben sie die Knochen gebrochen? Ist das die Art von Vertrauen, von der Ihr sprecht?«
»Verdammt, Ci! Ich wollte dich nur aus der Angelegenheit heraushalten, damit Grauer Fuchs die Untersuchung des Falles übernahm. Mit ihm als Leiter wäre alles viel einfachergewesen, doch der Neid hat ihn zerfressen, und er klagte dich an.«
»Wirklich? Warum glaube ich Euch das nicht? Ihr hättet im Gerichtssaal die Gelegenheit gehabt, mir zu helfen. Ihr hättet bestätigen können, dass ich es war, der den Mord an Kan entdeckte, und nicht Grauer Fuchs.«
»Das hätte ich getan, wenn es etwas genützt hätte. Doch die Sache in diesem Moment zu enthüllen hätte ein falsches Licht auf mich geworfen. Nin Zong vertraut mir. Und ich brauche sein Vertrauen weiterhin, wenn ich dich retten soll.«
Ci blickte Feng fest an.
»So wie Ihr auch meinen Vater gerettet habt?«, stieß er hervor.
»Ich verstehe nicht. Was willst du damit sagen?«
Ci zog den Brief hervor, den er in Fengs Bibliothek gefunden hatte. Er faltete ihn auseinander und warf ihn Feng vor die Füße.
»Erkennt Ihr die Handschrift?«
Feng hob das Blatt auf. Als er den Brief las, zitterten seine Hände.
»Woher … woher hast du den?«, stammelte
Weitere Kostenlose Bücher