Der Totenleser
dass ich eigenhändig mein Herz durchstoßen werde!«
Nin Zong zögerte. Er suchte mit den Augen den Ratschlag seines Kaiserlichen Beraters. Bo nickte.
»Eine letzte«, gestand er Ci schließlich zu, bevor er sich wieder hinsetzte.
Ci wischte sich mit dem Ärmel über seine blutende Nase. Das war seine letzte Chance. Er gab Bo ein Zeichen, dass er ihm die Ledertasche reichen möge, die er seit dem Verlassen des Kerker bei sich getragen hatte.
»Majestät.« Ci hob die Tasche vor dem Kaiser in die Höhe. »Hier drin befindet sich der Beweis, der nicht nur meine Unschuld bezeugen, sondern auch das verborgene Gesicht einer hässlichen Intrige enthüllen wird. Der Plan eines Mannes, der, getrieben von einem erbarmungslosen Ehrgeiz, nicht davor zurückschreckt, mit der schrecklichsten Waffe zu morden, die je von einem Menschen entwickelt wurde. Es handelt sich um eine mobile Kanone, die ein Mensch alleine tragen kann, versteckt unter der Kleidung. Und es ist möglich, damit aus der Distanz zu morden, ohne Risiko, sein Ziel zu verfehlen.«
»Was ist das für eine Dummheit? Sprechen wir jetzt von Zauberei?«, grollte Feng.
Zur Antwort steckte Ci seine Hand in die Tasche und zog ein Bronzezepter heraus. Nin Zong machte ein verwundertes Gesicht, und Feng wurde blass.
»In der Ruine der Werkstatt des Bronzefabrikanten fand ich die Scherben einer ungewöhnlichen Terrakottaform, die dann, nachdem ich sie wieder zusammengesetzt hatte, aus meinem Zimmer gestohlen wurde. Zum Glück war ich so umsichtig, vorher einen Gipsabguss davon zu nehmen, den ich in der Ming-Akademie versteckte«, erklärte Ci. »Sobald Feng von seiner Existenz erfahren hatte, schlug er vor, dass ich ihm seine Aufbewahrung anvertrauen sollte, eine Bitte, der ich arglos zustimmte. Allerdings entdeckte ich seine betrügerischen Absichten, noch bevor ich ihm die Vollmacht übergeben hatte, so dass ich sie gegen eine andere Notiz austauschen konnte. In der Akademie händigte man Feng, gemäß meinem Schreiben, den Gipsabguss aus, jedoch nicht diese Replik aus Bronze. Was Feng nämlich nicht wusste: Ich hatte den Diener Mings nicht allein darum gebeten, den Gipsabguss sicher zu verstecken, sondern auch, nach seinem Vorbild eine Bronze-Nachbildung anfertigen zu lassen.« Ci sah hinüber zur Anklagebank, dann zu Nin Zong. »Feng zerstörte den Abguss, in der Annahme, damit den einzigen Beweis zu vernichten, der ihn belasten konnte.« Triumphierend streckte Ci die Waffe in die Höhe. »Doch er hat sich getäuscht, wie Ihr seht.«
Verblüfft betrachtete der Kaiser die Handkanone.
»Erläutere mir den Zusammenhang zwischen diesem eigentümlichen Gerät und den Morden an meinem Hof !«, forderte Nin Zong Ci auf.
»Dieses Gerät, wie Eure Majestät es nennen, ist die Ursache für all die Toten.« Er bat um Erlaubnis, die Kanone dem Kaiser zu reichen, der sie misstrauisch untersuchte. »Mit dem einzigen Ziel, sich zu bereichern, entwarf und konstruierte Feng dieses perverse Instrument, dessen Geheimnisse er bereit war, an die Jin zu verkaufen. Um seine Herstellung zufinanzieren, veruntreute er Gelder aus den Salzlieferungen«, fuhr Ci fort. »Der Eunuch Sanfter Delphin war ein ehrlicher Arbeiter, der die Salzposten gewissenhaft prüfte. Als er die Unregelmäßigkeiten entdeckte, versuchte Feng ihn zu bestechen, und als das nicht gelang, räumte er ihn aus dem Weg.«
»Das ist eine üble Verleumdung!«, schrie Feng.
»Ruhe!«, herrschte der älteste Würdenträger ihn an. »Fahre fort, Angeklagter!«
»Sanfter Delphin entdeckte nicht nur dieselben Unregelmäßigkeiten, auf die schon mein Vater gestoßen war, sondern er stellte auch fest, dass die veruntreuten Summen dazu verwendet wurden, weißes Salz zu erwerben, ein teures und schwer zu gewinnendes Produkt, das hauptsächlich zur Herstellung von Schießpulver verwendet wird. Darüber hinaus fand er heraus, dass große Summen an drei Personen gezahlt wurden, die inzwischen ebenfalls tot sind: an einen Alchemisten, an einen Bronzefabrikanten und an den Sprengmeister einer Werkstatt. In der Folge drehte er Feng den Geldhahn zu, indem er die Konten einfror.« Er präsentierte den Versammelten den Bericht, den Bo ihm soeben gereicht hatte. »Doch Sanfter Delphin war nicht sein erstes Opfer. Diese zweifelhafte Ehre kam dem Alchemisten zu, den ich soeben erwähnte, einem taoistischen Mönch namens Yu. Seine salzzerfressenen Finger, unter deren Nägeln ich Kohlereste feststellte, und das kleine
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