Der Totenleser
religiöser Anschauungen: dem Buddhismus, dem Taoismus und dem Konfuzianismus – die meisten Menschen richteten ihr Leben nach einer Mischung aus allen dreien aus. Ein Sprichwort beschreibt ihren praktischen Umgang mit dieser Vielfalt: »Ein Chinese ist Konfuzianer, wenn es ihm gutgeht, er ist Taoist, wenn es ihm schlecht geht, und er ist Buddhist im Angesicht des Todes.«
Auch die im Okzident verbreiteten Konzepte von Himmel und Hölle waren bekannt, allerdings war die Hölle nach der chinesischen Vorstellung besser organisiert als nach der christlichen: Anstelle einer einzigen Hölle gab es ganze fünf, in denen zehn Richter sechs Wochen lang streng über die geeigneten Strafen für den Verurteilten entschieden. Zusätzlich zum Höllenfeuer gab es in der Hölle nach chinesischer Vorstellung noch eine Vielzahl weiterer Folterarten:Wer die Götter nicht respektiert hatte, wurden in der Mitte durchgesägt. Räuber und Kindesmörder wurden geschlagen und mit dem Hals an eine Kette gelegt. Geizhälse mussten ein Joch tragen, so dass sie weder essen noch schlafen konnten.Wer Familienfeindlichkeiten provoziert hatte, wurde von Schweinen und Hunden angenagt, und wer das Gebot der kindlichen Pietät missachtet hatte, wurde geköpft. Ungerechte Beamte wurden ebenfalls in der Mitte durchgesägt – genau wie Ehefrauen, die ihren Mann beschimpft hatten. Kriminelle und Verbrecher wurden für gewöhnlich in einer Mühle zu Hackfleisch gemahlen.
Rechtsprechung
Grundsätzlich standen sich zwei gegensätzliche Positionen, was die Funktion der Strafe in der Gesellschaft betraf, gegenüber. Die Konfuzianer gingen davon aus, dass der Mensch grundsätzlich gut sei. Strafen seien ein notwendiges Übel und hätten lediglich eine abschreckende Funktion für Menschen, deren guter Kern noch nicht aktiviert werden konnte. Die Legisten hingegen gingen davon aus, dass der Mensch grundsätzlich schlecht sei und ausschließlich durch seine Angst vor Strafen von Verbrechen abgehalten werden könne. Strafe undBelohnung dienten der Manipulation der Untertanen, um politische Ziele durchzuzusetzen – ethische Überlegungen spielten keine Rolle.
Heutige Rechtsgelehrte der chinesischen Akademie der Gesellschaftswissenschaften fassen die tatsächliche Handhabung mit einer Redewendung zusammen: »Konfuzianisch die Hülle, legistisch der Kern.«
Grundsätzlich galt die Kollektivstrafe. Anwendung fand diese wohl schon seit 2000 v.Chr. und wurde insbesondere von den Legisten sehr befürwortet. In unterschiedlichen Abstufungen – je nachdem, wie milde oder hart sich der Kaiser präsentieren wollte – umfasste die Kollektivstrafe die »drei Verwandten«: Eltern, Gattin/Kinder und Geschwister. In manchen Zeiten wurde die Gruppe jedoch bis auf die Nachbarn ausgeweitet. So wird berichtet, dass es in der Qin-Dynastie bei einem politischen Verbrechen zur Verbannung von über 4000 Familien kam. Sehr alte Menschen wurden zu fast allen Zeiten von der Kollektivstrafe ausgenommen. Frauen wurden in der Regel etwas milder behandelt und nicht hingerichtet, sondern zu Staatssklavinnen degradiert. Die Anwendung der Kollektivstrafe wurde seit der Han-Dynastie immer wieder diskutiert.
Darüber hinaus galt das konfuzianische Gebot der erlaubten Vertuschung der Verbrechen von Familienangehörigen. Verwandte durften einander nicht anzeigen. Eine Strafanzeige war in der Regel ein amnestieunfähiges, todeswürdiges Verbrechen. Diese Richtlinie diente der Verankerung der konfuzianischen Familienethik.
Straffreiheit wurde in bestimmten Fällen gewährt. Elterliche Gewalt bis hin zur Tötung von Nachkommen wurde beispielsweise nicht geahndet – es handelte sich hier um ein »Hausdelikt« und nicht um ein öffentliches. Selbstverständlichwar eine Anklageerhebung gegen den Kaiser undenkbar. Auch Angehörige bestimmter privilegierter Schichten erhielten eine Sonderbehandlung.
Übrigens galt bei Untreue folgendes Recht: Wenn eine Frau zum ersten Mal beim Ehebruch erwischt wurde,bestrafte man ihren Verführer, da er die Unschuld der Frau ausgenutzt hatte. Beim zweiten Mal wurde die Frau selbst durch Schläge oder Auspeitschen bestraft, da sie ihr Verhalten nicht geändert hatte, obwohl sie sich des Vergehens bewusst war. Beim dritten Mal kam der Ehemann der Frau ins Gefängnis: Man befand ihn untauglich. Er hatte die ehrwürdige Institution der Ehe geschändet.
Medizin
Im alten China nahm man an, dass Götter, Dämonen oder Geister Krankheiten bringen. Im Huang Di Nei Jing
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