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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Boden. Es war offensichtlich: Hier hatte jemand in großer Eile für seine Flucht gepackt. Mit schwerem Herzen schleppte Ci sich in Fengs Arbeitsraum. Mehrere Beamte waren dabei, die Bibliothek zu untersuchen. Ci betrachtete zerstreut die Regale, bis sein Blick auf die Lücke in der Bücherreihe fiel. Es war das Brett, auf dem die Abhandlungen über das Salz standen. Zu seiner Überraschung fehlte das wertvolle, in Grün eingeschlagene Handbuch zu militärischen Techniken und dem Gebrauch des Pulvers: die seltene Ausgabe des Ujingzongyao .
    Ci runzelte die Stirn und griff unwillkürlich in die Lücke. Er schrak zurück, als seine Finger auf einen kalten Gegenstand stießen. Dann streckte er neugierig seine Hand danach aus,bis er ihn zu fassen bekam. Als er den Gegenstand herauszog, traf es ihn wie ein Blitz. Es war die kleine Truhe seines Vaters. Die Truhe, die er zwischen den Trümmern des abgebrannten Elternhauses gesucht und nicht gefunden hatte. Er öffnete sie ängstlich, als befände sich in ihrem Inneren der Geist seines Vorfahren. Tatsächlich enthielt sie einige Papiere in der Handschrift seines Vaters, die die doppelte Buchführung und die von Feng veruntreuten Gelder dokumentierten.
    Irritiert verließ Ci den Pavillon, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Er konnte nicht fassen, wie gutgläubig er gewesen war. Wie ein Gespenst wandelte er zurück in die Akademie. Dort informierte ihn der Pförtner, dass jemand im Hof auf ihn warte. Ci spürte, wie sein Herz einen Sprung machte bei dem Gedanken, es könnte sich um Blaue Iris handeln. Doch zu seiner großen Enttäuschung waren es zwei Bettler, die er nie zuvor gesehen zu haben glaubte.
    »Erinnert Ihr Euch nicht an mich?«, fragte ihn der Jüngere. »Es war der Tag des Brandes in der Werkstatt. Ihr habt gesagt, wenn ich den Lahmen finde, kann ich mir mein Geld abholen.«
    Ci musterte den Bettler von oben bis unten, und plötzlich erkannte er ihn. Es war der Junge, den er in der Nähe der Bronzewerkstatt befragt hatte. Der Mann, der ihn begleitete, hinkte heran. Es musste sich um den Zeugen handeln, von dem er gesprochen hatte.
    »Du kommst zu spät, Junge. Der Fall ist bereits gelöst.«, sagte Ci.
    »Aber Herr! Ihr habt versprochen, dass ich mein restliches Geld bekommen würde, wenn ich ihn Euch bringe …«, jammerte der Bettler.
    Ci sah dem Jungen in die Augen.
    »In Ordnung. Was hat dein Freund gesehen?«
    »Los, sag’s ihm!« Der Betteljunge gab dem anderen einen Stoß.
    Der Lahme trat strauchelnd vor.
    »Es kamen drei Personen«, erzählte er. »Ich war in meinem Versteck, aber ich konnte sie sehen und hören. Die Person, die die Anweisungen gab, wartete draußen, während die anderen etwas in dem Gebäude suchten. Dann besprengten sie alles mit Öl und zündeten es an.«
    »Würdest du die Personen wiedererkennen?«, fragte Ci ohne große Überzeugung.
    »Ich denke schon, Herr. Einen der Männer nannten sie Feng. Der andere sah aus wie ein Mongole.«
    Ci fuhr zusammen. Er trat näher an den Jungen heran.
    »Und der dritte Mann? Was kannst du über ihn sagen?«
    »Es war kein Mann«, sagte er. »Die Person, der die beiden Männer gehorchten, war eine Frau.«
    »Eine … Frau?«, stammelte Ci. »Was für eine Frau?« Er schüttelte den Jungen an den Schultern.
    »Ich weiß es nicht! Ich habe nur gesehen, dass sie ungeschickt ging und sich dabei auf einen Stock stützte. Einen Stock wie Euren …«
    * * *
    Die nächsten drei Tage verbrachte Ci eingeschlossen in seinem Zimmer, ohne einen Bissen herunterzubekommen und ohne seine Wunden versorgen zu lassen. Er ließ einfach die Zeit verstreichen, während er darüber sinnierte, ob Blaue Iris wirklich so viel Schuld traf, wie es den Anschein hatte. War Feng nur ihre Marionette gewesen? Er fragte sich auch, warum sie Feng verraten und ihm, Ci, das Leben gerettet hatte.
    Am Nachmittag des dritten Tages suchte Bo ihn auf. Er brachte keine Neuigkeiten, was Blaue Iris betraf. Doch sagte er mit gesenktem Blick, Ci könne sich glücklich schätzen. Er habe in Erfahrung gebracht, dass der Kaiser niemals vorhatte, Ci im Tausch gegen sein Geständnis ein ruhiges Leben in der Abgeschiedenheit zu ermöglichen. Die Hinrichtung war beschlossen – in jedem Fall. Das Einzige, was Ci gerettet hatte, war Fengs unerwarteter Selbstmord gewesen.
    Ci musste schlucken. Er dankte dem Kaiserlichen Berater für sein Vertrauen, doch seine Laune hob das Gespräch nicht.
    Am vierten Tag hörte er auf zu trauern und stand auf. Er war

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